Seite:De Flüssige Kristalle Lehmann 30.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

nehmen, da die Elastizität dem Oberflächenspannungsdruck dauernd Widerstand leistet. Ein zu einer feinen Spitze ausgezogener Glasfaden verliert auch nach beliebig langer Dauer nichts an der Schärfe der Spitze, falls man ihn nicht bis zum Erweichen erhitzt, obschon hier ein relativ hoher Oberflächenspannungsdruck herrscht; denn dieser Druck bleibt (auch im günstigsten Fall) weit unter der Elastizitätsgrenze; er vermag höchstens eine geringfügige elastische Deformation zu bewirken, die sich aber der Beobachtung völlig entzieht.

     Gleiches gilt für eine spitz auslaufend gewachsene Kristallnadel[1] (z. B. von Ammoniumnitrat).

     Bei den schleimig-flüssigen Kristallen ist es. die molekulare Richtkraft, welche der Oberflächenspannung entgegenwirkt, so daß nicht Kugel-, sondern Stäbchenform zustande kommt. Daß letztere etwa durch Verschiedenheit der Oberflächenspannung an verschiedenen Stellen gemäß Figg. 33 u. 34 bedingt sein könnte, ist ausgeschlossen, da andernfalls auch die angedeuteten Wirbelbewegungen stattfinden müßten, und zwar ständig, was sich nicht nur nicht beobachten läßt, sondern auch dem Gesetz der Zerstreuung der Energie wiederspräche, da man mittelst dieser Wirbel ein perpetuum mobile (II. Art) herstellen könnte, weil sich die Struktur ständig wieder herstellen würde.

     Durch Wirkung der Oberflächenspannung kann sich aber bei schleimigflüssigen Kristallen ein Zwilling durch Umklappen der Hälften aus einem einfachen Stäbchen bilden, da seine Oberflächenenergie kleiner ist als die des letzteren (Fig. 37a, b); er kann aber aus gleichem Grunde sich durch Zusammenklappen seiner beiden Schenkel in ein kürzeres dickeres einfaches Stäbchen verwandeln, da dessen Oberflächenenergie noch kleiner ist, wie die Figuren 37b, c andeuten. Durch Vermittelung der Zwillingsbildung wäre also die Oberflächenspannung imstande, ein Stäbchen zu einem annähernd kugelförmigen Gebilde zusammenzudrücken (was bei einer gewöhnlichen Flüssigkeit schon ohne weiteres stattfindet). Bei festen Kristallen ist die selbständige Umbildung eines einfachen Kristalles in einen Zwilling oder umgekehrt natürlich unmöglich.

     Tritt das Zusammenfließen zweier Stäbchen weder in paralleler noch in zwillingsartiger Stellung ein, so drehen sich dieselben während des Zusammenfließens, so daß die eine oder andere Stellung erreicht wird (Fig. 38a, b, c). Offenbar sind an der Vereinigungsstelle die Molekülblättchen zunächst nicht parallel. Da


  1. Charakteristisch für die Kristalle ist, daß sie wachsen können, d. h. daß sie „P hasen“ sind. [S. 13. S. a. O. L. Zeitschr. f. Kristallogr. 18 (1890), 457.]