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ein allgemein-humanistischer Gedanke: seit Orosius, sagt Biondo, hat es keine wirklichen Geschichtschreiber mehr gegeben, nur leichtsinnige und törichte Skribenten, die den Sachverhalt mehr verwirrt als geklärt haben; so muß versucht werden, aus den Quellen ein Ganzes zu schaffen.[1] Aber gleich zu Beginn der Arbeit setzt sich Biondo mit denen auseinander, die über das Anfangsjahr des Niedergangs von ihm abweichende Ansichten haben. Da sind zunächst die, welche sagen, daß das römische Reich eben wie andere ab- und zugenommen hat, also Männer wie etwa Villani[2]; das führt zu keiner Epochenzahl. Eher die Meinung, daß man mit der Verlegung der Hauptstadt nach Byzanz beginnen solle. Das gefällt auch Biondo besser, denn es läßt eine kirchlich gedachte Beziehung zu: die Verlegung ist die Strafe für die Sünden der Römer gegen die Religion, aber damit kommt man zu einer Kirchengeschichte. Hier konnten Männer wie der hl. Antonin einen Einschnitt finden. Dann aber gibt es noch eine moderne Meinung: der Niedergang beginnt mit der Diktatur Cäsars, d. h. mit dem Verlust der römischen Freiheit. Das sagt Bruni.[3] Biondo hat sich dem nicht angeschlossen, sein Epochenjahr ist 410, oder wie er berechnet 412, aber seine Worte zeigen uns, daß es eine Diskussion über diese Dinge gab, und wir können auch sagen, wann und wo sie wohl stattgefunden hat: in Florenz, als sich die Kurie Eugens IV., dessen Sekretär Biondo war, aus dem aufständischen Rom dorthin geflüchtet hatte. Hier hat Biondo wohl nicht nur mit Bruni den Streit über das Vorhandensein eines Vulgärlateins im alten Rom begonnen und mit ihm und anderen den Liviustext verbessert[4], sondern auch den Plan einer Geschichte ab inclinatione imperii erörtert. Hier an der Stätte des Unionskonzils mit den Griechen ist dann wohl auch der Gedanke erwachsen, die beiden Teile des alten Reichs, Ostrom und Westrom, in dem Werke gleichmäßig zu behandeln. Denn das will Biondo tun.[5]

Es mag dann noch manches Jahr gedauert haben, bis die Fundamente für den neuen Bau beigeschafft waren. Wir wissen wenig über diese Vorarbeiten. Die Entdeckung eines mittelalterlichen Quellenschriftstellers war keine Sache, die die Federn humanistischer Briefschreiber in Bewegung setzte, wie die eines Quintilian oder auch nur des Asconius Pedianus. Aber Entdeckungen waren es, wenn Biondo Jordanes, „Alkuin“, Prokop, die Papstbiographen und so viele andere, nachdem sie jahrhundertelang nur in Ableitungen späterer Chronisten zugänglich gewesen waren, wieder in der Originalgestalt lebendig machte[6], und auch ein Autor wie Paulus Diaconus, der nie ganz

  1. [225] 23) Masius 302 und Decades I, 1. Man bemerke den Ausdruck: Quorum (sc. der Quellen) digestio, ut unum habeant historiae corpus, maiorem est opinione omnium operam habitura.
  2. [225] 24) Chronik I cap. 61.
  3. [225] 25) Nicht Orosius, wie Buchholz 10 meint; die Benutzung Brunis durch Biondo ist durch wörtliche Übereinstimmung sichergestellt.
  4. [225] 26) Masius 19, 31.
  5. [225] 27) Nicht, wie Masius 37 meint, die Geschichte Italiens allein. Vgl. z. B. Dec. II lib. II: Consideranti mihi nunc orbis olim Romanis subiecti statum nulla videtur inclinanti pridem imperio funditus evertendo causa efficacior fuisse, quam inchoata nuper Constantinopolitani cum Romano principe dissentio. Si namque Nicephorus Graecus ita in Asiam et Africam mentem cogitationesque intendisset, sicut Carolus magnus domandis vel imperio vel fidei christianae rebellibus Europae populis incubuerat, facile potuit instaurari Romanae rei dignitas, quam uterque imperator titulo praeferebat. – Die Absicht Biondos hat schon Burckhardt, Kultur der Renaissance I9, 269 treffend mit der Gibbons verglichen. Allerdings werden Biondos Quellen für Ostrom je länger, je dürftiger, so daß er zu Beginn der dritten Dekade sagen kann: Italia mihi ex omni Romano olim imperio sola est relicta provincia.
  6. [225] 28) Alkuin ist die Bezeichnung der karolingischen Reichsannalen, s. Buchholz 64. Den Jordanes kennt auch schon Bruni, wie sein Abriß der Geschichte der Völkerwanderung in der Florentiner Geschichte zeigt. Über den sog. Ablavius s. Mommsen vor seiner Ausgabe in den M. G. Auct. antiquissimi V, 1, p. xxxvii70. Daselbst sind auch in der Handschriftenbeschreibung die beiden Laurentiani saec. XV zu beachten. Für Prokop sind Biondos eigene Äußerungen im Anfang des 4. Buchs der 1. Dekade wichtig.