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Tübinger und Schlettstädter Humanistenkreis nehmen sich der Frage an, zusammengeführt durch die eifrige Tätigkeit des Ravensburgers Michael Hummelberg.[1]

Es ist hier, wie anderswo, nicht viel Endgültiges bei der Diskussion erreicht worden, aber aus diesem ganzen Hin und Her von Fragen und Meinungen trat immer deutlicher ein Mittelpunktsproblem hervor, auf das sich alle kritischen Bemühungen um eine wirkliche deutsche Geschichte zunächst richten mußten. Es lautet: Wie hat sich das Deutschland am Ende der Wanderungszeit aus dem Germanien der römisch-griechischen Überlieferung gebildet? Die Frage, die schon Nauklerus bewegt hatte, woher denn die Franken, Alemannen, Thüringer kämen, von denen doch bei Tacitus, Strabo, Ptolemäus nichts zu finden sei, mußte in Angriff genommen werden. In diesem Knoten, das fühlte man allgemein, steckte der wirkliche Anfang deutscher Geschichte. Das Mittelalter hatte danach nicht zu fragen gebraucht, auch hier half der Begriff der Translatio imperii. Wer tiefer ging wie Ekkehard, setzte einfach die Stammesgeschichten nach Jordanes, Paulus Diaconus und Widukind in sein Werk hinein. Erst mit dem Augenblick, wo die Frage nicht mehr nach dem Ursprung des Reichs, sondern nach dem des Volkstums gestellt wird, springt das neue Problem auf.

Aber es dauert lange, bis es wirklich erkannt wird, und es kommt viel darauf an, von welchen Quellen aus man zu ihm gelangt. Wer von Ptolemäus ausgeht, bleibt im Topographischen stecken, wenn auch bald der Unterschied der alten und der neuen οἰκουμένη ins Bewußtsein tritt. Erst Strabo, einer der Autoren, die Aurispa dem Abendlande gewonnen hatte, führt zum Ethnographischen, Enea Silvio wandelt in seinen Bahnen. Aber beide sind universal, zudem traut man den Griechen nicht viel bei der Wiedergabe deutscher Dinge.[2] Ganz anders wirkt Tacitus. Hier war eine Urkunde, deren sich keine andere Nation rühmen konnte, ein Augenzeuge, wie man glaubte[3], ein Lobredner zudem, wenn auch nicht in jedem Punkte so preisend, wie es die Humanisten gern gesehen hätten. Aber auch er gab eine Schilderung, keine Geschichte, und dabei oft nur Andeutungen, Namen, die man nicht zu identifizieren vermochte. Wo war der Weg, der von hier weiter führte?

Es gibt kaum einen Humanisten, der ihn nicht gesucht hätte, aber nur einer hat ihn gefunden, das stärkste kritische Talent des deutschen Humanismus überhaupt, Beatus Rhenanus.[4]


  1. [256] 92) S. die Briefe im Anhang von Lotter-Veiths Vita Peutingeri. Ergänzungen bei Horawitz, Analekten zur Geschichte des Humanismus in Schwaben [SBWA. LXXXVI, 217 ff.], auch Briefwechsel des Beatus Rhenanus 315 f.
  2. [256] 93) So schon bei den Italienern über Römisches und dann bei den Deutschen häufig.
  3. [256] 94) Vgl. z. B. Hutten, Arminius Opp. IV, 410 f. Man schloß das besonders aus Germania 8: Vidimus . . . Veledam. Anders Münster s. u. VI144.
  4. [256] 95) Um ihn hat sich besonders Horawitz verdient gemacht und 1871/72 SBWA. LXX, LXXI und LXXII eine Biographie, sowie eine Übersicht über die literarische Tätigkeit gegeben. Dazu aber wichtige Ergänzungen von Knod in CBlBiblW. Bd. II und III. Auch Hartfelder in ADB s. v. bietet Gutes. Mit Hartfelder hat Horawitz dann 1886 den Briefwechsel des Beatus Rhenanus herausgegeben, leider in Text und Anmerkungen mangelhaft. S. die Rezension Knods l. c. IV, 305 u. a. Knod hat auch für die Jugendgeschichte des Rhenanus ganz neue Grundlagen geschaffen in der ausgezeichneten Schrift: Aus der Bibliothek des Beatus Rhenanus 1889.