Seite:De Neue Thalia Band2 216.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält.

zusammen lebet, und bey eurem Tode gemeinschaftlich in die Unterwelt wanderet, und auch dort nicht zwey seid, sondern Eins! Besinnet euch, ob dieß euer Wunsch sey, ob es euch recht wäre, wenn ihn jemand erfüllen wollte?“ –: keiner, das weiß ich, würde dann Nein sagen, keiner einen andern Wunsch äussern jeder nur seinen eignen längst gefühlten Wunsch zu hören glauben: zusammengeschmolzen und verbunden mit seinem Geliebten aus zweyen Eins zu werden. Die Ursache davon ist, weil wir jetzt nur Brüche von Menschen sind, ehmals aber ganze Menschen waren. Liebe ist also nichts anders, als das Verlangen und das Streben nach der Ergänzung unseres Wesens. Denn, wie gesagt, wir waren ehmals ganze Einheiten, aber jene unseelige Revolution unsrer Ahnen hat den Zevs zu der unglücklichen Theilung veranlaßt, und seitdem sind unsre Hälften dislocirt worden, wie die Arkadier durch die Spartaner. Und wenn wir uns nicht hübsch artig gegen die Götter aufführen, so dürften wir leicht noch einmal von Zevs gespalten werden. Dann würden wir aussehen wie die Reliefs auf den Grabsteinen, die nur ein Profil vorstellen, mit halben Nasen so dünn wie Spielmarken [1]. Es sollte also billig jeder Mensch den andern warnen, sich aller aufrührischen Gedanken


  1. Ich substituire diesen Ausdruck für das griechische λισπαι, was mehrere Glossatoren mit Suidas für eine Art von Würfeln, die in der Mitte durchschnitten waren, erklären.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Neue Thalia. Zweyter Band, welcher das vierte bis sechste Stück enthält. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1792, Seite 216. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Neue_Thalia_Band2_216.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)