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irgend einem Grade leichterer Beeinflussung, die Augen stetig geschlossen, die Miene etwas starr, ohne mit einem Glied zu rühren. Ich fragte sie, ob sie sich erinnere, bei welchem Anlass die Geruchsempfindung der verbrannten Mehlspeise entstanden sei. – O ja, das weiss ich ganz genau. Es war vor ungefähr zwei Monaten, zwei Tage vor meinem Geburtstag. Ich war mit den Kindern im Schulzimmer und spielte mit ihnen (zwei Mädchen) Kochen, da wurde ein Brief hereingebracht, den der Briefträger eben abgegeben hatte. Ich erkannte an Poststempel und Handschrift, dass der Brief von meiner Mutter in Glasgow sei, wollte ihn öffnen und lesen. Da kamen die Kinder auf mich losgestürzt, rissen mir den Brief aus der Hand und riefen: Nein, Du darfst ihn jetzt nicht lesen, er ist gewiss für Deinen Geburtstag, wir werden ihn Dir aufheben. Während die Kinder so um mich spielten, verbreitete sich plötzlich ein intensiver Geruch. Die Kinder hatten die Mehlspeise, die sie kochten, im Stiche gelassen, und die war angebrannt. Seit damals verfolgt mich dieser Geruch, er ist eigentlich immer da und wird stärker bei Aufregung.

Sie sehen diese Scene deutlich vor sich? – Greifbar, wie ich sie erlebt habe. – Was konnte Sie denn daran so aufregen? – Es rührte mich, dass die Kinder so zärtlich gegen mich waren. – Waren sie das nicht immer? – Ja, aber gerade, als ich den Brief der Mutter bekam. – Ich verstehe nicht, inwiefern die Zärtlichkeit der Kleinen und der Brief der Mutter einen Contrast ergeben haben sollen, den Sie doch anzudeuten scheinen. – Ich hatte nämlich die Absicht, zu meiner Mutter zu reisen, und da fiel es mir so schwer


sehr unregelmässig. Wie ich 17 Jahre alt war, hatte ich sie nur einmal. – Also, wir werden auszählen, wann dieses eine Mal war. – Sie entscheidet sich beim Auszählen mit Sicherheit für einen Monat und schwankt zwischen zwei Tagen unmittelbar vor einem Datum, das einem fixen Festtag angehört. – Stimmt das irgendwie mit der Zeit des Balles? – Sie antwortet kleinlaut: Der Ball war – an dem Feiertag. Und jetzt erinnere ich mich auch, es hat mir einen Eindruck gemacht, dass die einzige Periode, die ich in diesem Jahr hatte, gerade vor dem Ball kommen musste. Es war der erste, zu dem ich geladen war.
Man kann sich jetzt den Zusammenhang der Begebenheiten unschwer reconstruiren und sieht in den Mechanismus dieses hysterischen Anfalles hinein. Dieses Ergebniss war freilich mühselig genug gewonnen und bedurfte des vollen Zutrauens in die Technik von meiner Seite und einzelner leitender Einfalle, um solche Einzelheiten eines vergessenen Erlebnisses nach 21 Jahren bei einer ungläubigen, eigentlich wachen Patientin wiederzuerwecken. Dann aber stimmte Alles zusammen.

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_097.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)