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„Und im Hals spüren Sie nichts?“

„Den Hals schnürt’s mir zusammen, als ob ich ersticken sollt?“

„Und thut es sonst noch was im Kopf?“

„Ja, hämmern thut es zum Zerspringen.“

„Ja, und fürchten Sie sich gar nicht dabei?“

„Ich glaub’ immer, jetzt muss ich sterben, und ich bin sonst couragirt, ich geh’ überall allein hin, in den Keller und hinunter über den ganzen Berg, aber wenn so ein Tag ist, an dem ich das hab’, dann trau’ ich mich nirgends hin, ich glaub’ immer, es steht jemand hinter mir und packt mich plötzlich an.“

Es war wirklich ein Angstanfall, und zwar eingeleitet von den Zeichen der hysterischen Aura, oder besser gesagt, ein hysterischer Anfall, dessen Inhalt Angst war. Sollte kein anderer Inhalt dabei sein?

„Denken Sie was, immer dasselbe, oder sehen Sie was vor sich, wenn Sie den Anfall haben?“

„Ja, so ein grausliches Gesicht seh ich immer dabei, das mich so schrecklich anschaut, vor dem fürcht’ ich mich dann.“

Da bot sich vielleicht ein Weg, rasch zum Kern der Sache vorzudringen.

„Erkennen Sie das Gesicht; ich mein’, ist das ein Gesicht, was Sie einmal wirklich gesehen haben?“ – „Nein.“

„Wissen Sie, woher Sie die Anfälle haben?“ „Nein.“ – „Wann haben Sie die denn zuerst bekommen?“ – „Zuerst vor zwei Jahren, wie ich noch mit der Tant’ auf dem anderen Berg war, sie hat dort früher das Schutzhaus gehabt, jetzt sind wir seit 1½ Jahren hier, aber es kommt immer wieder.“

Sollte ich hier einen Versuch der Analyse machen? Die Hypnose zwar wagte ich nicht in diese Höhen zu verpflanzen, aber vielleicht gelingt es im einfachen Gespräch. Ich musste glücklich rathen. Angst bei jungen Mädchen hatte ich so oft als Folge des Grausens erkannt, das ein virginales Gemüth befällt, wenn sich zuerst die Welt der Sexualität vor ihm aufthut.[1]


  1. Ich will den Fall hier anführen, in welchem ich dies causale Verhältniss zuerst erkannte. Ich behandelte eine junge Frau an einer complicirten Neurose, die wieder einmal nicht zugeben wollte, dass sie sich ihr Leiden in ihrem ehelichen Leben geholt hatte. Sie wandte ein, dass sie schon als Mädchen an Anfällen von Angst gelitten habe, die in Ohnmacht ausgingen. Ich blieb standhaft. Als wir besser bekannt geworden waren, sagte sie mir plötzlich eines Tages: „Jetzt will ich Ihnen auch berichten, woher meine Angstzustände als junges Mädchen gekommen [109] sind. Ich habe damals in einem Zimmer neben dem meiner Eltern geschlafen, die Thür war offen und ein Nachtlicht brannte auf dem Tisch. Da habe ich denn einigemale gesehen, wie der Vater zur Mutter in’s Bett gegangen ist und habe etwas gehört, was mich sehr aufgeregt hat. Darauf bekam ich dann meine Anfälle.“
Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_108.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)