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sich so wohl zu verstehen, dass die Braut sie mit der halb ernst gemeinten Bemerkung unterbrach: „Eigentlich hättet Ihr zwei sehr gut zu einander gepasst.“ Ein anderesmal war in einer Gesellschaft, welche von der Verlobung noch nichts wusste, die Rede von dem jungen Manne, und eine Dame beanständete einen Fehler seiner Gestalt, der auf eine juvenile Knochenerkrankung hindeutete. Die Braut selbst blieb ruhig dabei, Elisabeth aber fuhr auf und trat mit einem Eifer, der ihr dann selbst unverständlich war, für den geraden Wuchs ihres zukünftigen Schwagers ein. Indem wir uns durch diese Reminiscenzen hindurcharbeiteten, wurde es Elisabeth klar, dass die zärtliche Empfindung für ihren Schwager seit langer Zeit, vielleicht seit Beginn ihrer Beziehungen in ihr geschlummert und sich so lange hinter der Maske einer blos verwandschaftlichen Zuneigung versteckt hatte, wie sie ihr hoch entwickeltes Familiengefühl begreiflich machen konnte.

Dieses Abreagiren that ihr entschieden sehr wohl; noch mehr Erleichterung konnte ich ihr aber bringen, indem ich mich freundschaftlich um gegenwärtige Verhältnisse bekümmerte. Ich suchte in solcher Absicht eine Unterredung mit Frau v. R. . ., in der ich eine verständige und feinfühlige, wenngleich durch die letzten Schicksale in ihrem Lebensmuth beeinträchtigte Dame fand. Von ihr erfuhr ich, dass der Vorwurf einer unzarten Erpressung, den der ältere Schwager gegen den Witwer erhoben hatte, und der für Elisabeth so schmerzlich war, bei näherer Erkundigung zurückgenommen werden musste. Der Charakter des jungen Mannes konnte ungetrübt bleiben; ein Missverständniss, die leicht begreifliche Differenz in der Werthschätzung des Geldes, die der Kaufmannn, für den Geld ein Arbeitswerkzeug war, im Gegensatz zur Anschauung des Beamten zeigen durfte; mehr als diess blieb von dem scheinbar so peinlichen Vorfall nicht übrig. Ich bat die Mutter, fortan Elisabeth alle Aufklärungen zu geben, deren sie bedurfte, und ihr in der Folgezeit jene Gelegenheit zur seelischen Mittheilung zu bieten, an welche ich sie gewöhnt hatte.

Es lag mir natürlich auch daran zu erfahren, welche Aussicht der jetzt bewusst gewordene Wunsch des Mädchens habe, zur Wirklichkeit zu werden. Hier lagen die Dinge minder günstig! Die Mutter sagte, sie habe die Neigung Elisabeth's für ihren Schwager längst geahnt, allerdings nicht gewusst, dass sich eine solche noch bei Lebzeiten der Schwester geltend gemacht habe. Wer sie Beide im – allerdings selten gewordenen – Verkehr sehe, dem könne über die Absicht des Mädchens, ihm zu gefallen, kein Zweifel bleiben. Allein weder sie,

Empfohlene Zitierweise:
Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_138.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)