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verursacht; – dazwischen stehen alle Abstufungen der affectiven Erregbarkeit.

Aber immerhin bestehen beim normalen Menschen Widerstände für den Uebergang cerebraler Erregung auf die vegetativen Organe. Sie entsprechen der Isolation elektrischer Leitungen. An jenen Stellen, wo sie anomal gering sind, werden sie bei hochgespannter cerebraler Erregung durchbrochen, und diese, die Erregung des Affectes, geht auf das periphere Organ über. Es entsteht der „anomale Ausdruck der Gemüthsbewegung“.

Von den beiden eben genannten Bedingungen hiefür ist die eine schon ausführlich erörtert worden. Es ist ein hoher Grad intracerebraler Erregung, dem sowohl die Ausgleichung durch Vorstellungsablauf wie die durch motorische Abfuhr versagt ist; oder der zu hoch ist, als dass die letztere genügen könnte.

Die andere Bedingung ist abnorme Schwäche der Widerstände in einzelnen Leitungsbahnen. Sie kann in der originären Beschaffenheit des Menschen liegen (angeborene Disposition); sie kann bedingt sein durch langdauernde Erregungszustände, welche sozusagen das Gefüge des Nervensystems lockern und alle Widerstände herabsetzen (Disposition der Pubertät); durch schwächende Einflüsse, Krankheit, Unterernährung u. s. w. (Disposition der Erschöpfungszustände). Der Widerstand einzelner Leitungswege kann herabgesetzt werden durch vorhergehende Erkrankung des betreffenden Organes, wodurch die Wege zum und vom Gehirn gebahnt wurden. Ein krankes Herz unterliegt dem Einfluss des Affects stärker als ein gesundes. „Ich habe einen Resonanzboden im Unterleib“, sagte mir eine an chronischer Parametritis leidende Frau, „was geschieht, erweckt meinen alten Schmerz.“ – (Disposition durch locale Erkrankung.)

Die motorischen Acte, in welchen sich normaler Weise die Erregung der Affecte entladet, sind geordnete, coordinirte, wenn auch oft zwecklose. Aber die übergrosse Erregung kann die Coordinationscentren umgehen oder durchbrechen und in elementaren Bewegungen abströmen. Beim Säugling sind, ausser dem respiratorischen Acte des Schreiens, nur solche incoordinirte Muskelcontractionen, Bäumen und Strampeln, Wirkung und Ausdruck des Affectes. Mit fortschreitender Entwicklung gelangt die Musculatur immer mehr unter die Herrschaft der Coordination und des Willens. Aber jener Opisthotonus, welcher das Maximum motorischer Anstrengung der gesammten Körpermusculatur darstellt, und die klonischen Bewegungen des Zappelns und Strampelns bleiben das Leben hindurch die Reactionsform für die maximale Erregung

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Sigmund Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie. Franz Deuticke, Leipzig und Wien 1895, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Studien_%C3%BCber_Hysterie_178.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)