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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.

Luft, oder freye Leibesbewegungen kannte, eine so äusserst zarte Haut besaß, die ihm das Tragen der feinen Leinwand zu einem wahren Bedürfniß machte.

Dieß ist alles, was ich über jene merkwürdige Person zusammentragen konnte. Ich wünsche nur noch, daß man alle möglichen Untersuchungen anstelle, um den Namen ihres Erziehers zu erforschen, und in den Archiven das Protocoll der Geburt Ludwigs XIV. aufzufinden sich bemühe. Sollte nicht die Rechnungskammer oder die Bibliothek des Königs dieses Actenstück enthalten? Wenigstens verdient der von mir bekannt gemachte Aufsatz alle Aufmerksamkeit des Critischen Forschers. Sollten neuere Entdeckungen es bestätigen, daß der Gefangene kein andrer als ein Zwillingsbruder Ludwigs XIV. gewesen, so würden sie zugleich das Andenken dieses vorzüglichen Mannes, der so lange ein Gegenstand der allgemeinen Neugierde war, allen Einwohnern theurer und werther machen, und die willkührlichen Befehle der Minister und Tyrannen mit desto größerer Schande brandmarken. [1]


  1. Vergleicht man die hier vorgetragene Vermuthung mit dem historischen Charakter der dabey handelnden Personen, so scheint sie dadurch einen Grad von Wahrscheinlichkeit mehr zu erhalten. Der ganze Vorgang ist überhaupt aus zwei Handlungen zusammengesetzt, von denen die Eine, wo nicht ganz zu billigen, doch gewiß durch die erheblichsten Gründe zu entschuldigen ist, die andre hingegen vor keinem Tribunal gerechtfertigt werden kann. Den Entschluß, dem Einen der beiden Zwillingsbrüder seine Geburt zu verheimlichen, [122] konnte dem Monarchen, der ihn faßte, nur eine aufrichtige Sorgfalt für das Beste des Staats dictiren, da für ein neugebohrnes und gegen ein ungebohrnes Kind keine Parteilichkeit statt finden kann. Und das Mittel, welches er dazu erwählte, bestätigt dieß noch mehr indem es vielleicht das Einzige ist, bey welchem sich die Gerechtigkeit gegen den Prinzen, welchen man beraubte, mit der Gerechtigkeit gegen den Staat noch einigermaaßen vereinigen ließ. Denn dem Prinzen geschah dadurch die wenigstmögliche Gewalt; er wurde in einem glücklichen Loos in der Gesellschaft, ja sogar für eine königliche Bestimmung erzogen. Wenn ihm in der Folge der Tod seines ältern Bruders den Weg zu dem Thron geöffnet hätte, so hätte ihm diese Unwissenheit seines Standes eher genutzt als geschadet, und er würde in alle seine Rechte wieder eingetreten seyn, ohne durch den bisherigen Irrthum über sich selbst das geringste verloren zu haben, was ihn zu dem ganzen Genuß derselben fähig machen konnte. Ob die Uebel wirklich zu erwarten waren, denen man durch diesen sonderbaren Ausweg vorbeugen wollte, dürfte schwerlich einem Streit unterworfen seyn; wohl aber, ob das Entschiedenste Beste des Staats zur Rechtfertigung dienen konnte, gegen ein einzelnes Glied desselben gewaltthätig zu verfahren? Der unwidersprechlichste Nutzen des Staats würde es nicht entschuldigen, dem geringsten Bürger ein Recht zu entziehen, woran er als Mensch Anspruch machen kann, und wenn Millionen Beyspiele das Gegentheil zeigen, so handelte in diesen Fällen der Staat der stärkere gegen den schwächern, d. i. nach der Gewalt und nicht nach dem Rechte. Aber der Staat sollte es nie vergessen daß er selbst nur ein Mittel zu dem Zwecke seiner Glieder ist (der in dem Genuß ihrer Rechte besteht) und daß der Zweck nie seinem Mittel darf aufgeopfert werden. Eine schreyende Gewaltthätigkeit wäre es demnach gewesen, wenn an diesem Zwillingsbruder [123] Ludwigs XIV. die Fähigkeit entzogen hätte ein glücklicher nehmlich ein vortrefflicher Mensch zu werden – wenn man seinen Geist in einer Jesuiterschule verstümmelt, seinen Körper durch eine weichliche Erziehung zu Grunde gerichtet hätte, und kein noch so großer Vortheil des Staats würde eine solche Gewaltthätigkeit entschuldigt haben. Aber – ganz anders ist es mit einer Krone. Das Recht an diese hatte er nur von dem Staat und was allein der Staat geben kann, kann um der Wohlfahrt des Staats willen auch genommen werden. Die Erblichkeit der Kronen so wie alle übrigen Würden ist nicht um des Prinzen willen, der sie trägt, sondern um des Staats willen eingeführt – und man müßte annehmen, daß die Unterthanen um ihrer Beherrscher willen da seyn, wenn man von der politischen Gesellschaft verlangen wollte, ihre Wohlfahrt lieber in die unvermeidlichste Gefahr zu setzen, als einem einzelnen Bürger ein Recht zu entziehen, das sie ihm nur um ihrer eignen Wohlfarth willen verliehen hat. Aber weder das natürliche noch irgend ein positives Recht und die verabscheuungswürdige Gewaltthätigkeit rechtfertigen, welche man nach Entdeckung seiner Geburt über diesen unglücklichen Prinzen verhängte. Das erste Urtheil entzog ihm bloß ein konventionelles und bedingtes Recht, das zweyte beraubte ihn seiner heiligsten Menschenrechte. Von diesen zwey ganz verschiedenen Theilen und Epochen dieser Begebenheit kommt die unschuldige auf Rechnung Ludwigs XIII. und die abscheuliche auf Rechnung Ludwig des Großen. Die Erste liegt ganz im Karakter eines scrupulosen, gewissenhaften, besorglichen Fürsten; die zweyte ganz im Karacter jenes Ehrgeitzigen, der die Löcher der Bastille mit zahllosen Schlachtopfern seiner Herrschbegierde, seines Despotismus angefüllt hat. Der historischen Wahrscheinlichkeit geschieht also von dieser Seite [124] nicht die geringste Gewalt, wenn man die Gründe des Verfassers für seine Hypothese sonst für bindig halten will. Es wäre zu wünschen, daß ein volles Licht über diese Muthmaßung verbreitet wäre, um den diyonsischen Dolch zu wissen, der so lange Zeit über dem Haupte Ludwigs XIV. gehangen hätte.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1790–1791, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band3_Heft10_121.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)