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Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.

Zorn. So gelang es den kühnen Künstlerphantasien, berauscht von den Göttergesängen ihres Homers, eine Schönheit zu dichten, die für Sterbliche zu rein, zu wunderbar, zu göttlich ist. Entfesselt von dem gröberen Körper, allwirksam stand die Lebenskraft vor ihnen da, in ätherischen Umrissen noch sichtbar, wie sie im Ichorstrom die schöne Form erfüllt. An der furchtbaren Gränze, wo die Schönheitslinie wieder in Misgestalt übergeht, ergriffen sie die möglichen Gestalten des Erhabenen, deren Urbilder die Natur nicht in sich faßt, und schufen ahndungsvoll das hohe Ideal!

     Schön ist der Lenz des Lebens, wenn die Empfindung uns beglückt und die freye Phantasie in rosigen Träumen schwärmt. Uns selbst vergessend im Anschauen des gefühlerweckenden Gegenstands, fassen wir seine ganze Fülle und werden Eins mit ihm. Nicht blos die Liebe spricht: gebt alles hin, um alles zu gewinnen! Bey jeder Art des Genusses ist diese unbefangene Hingebung der Kaufpreis des vollkommenen Besitzes. Aber auch nur was so innig empfangen, uns selbst so innig angeeignet ward, kann wieder eben so vollkommen von uns ausströmen und als neue Schöpfung hervorgehn. Diesen Ursprung erkennt man in den Werken, die ächtes Genie gebahr; sie sind die Kinder eines edlen, großen, umfassenden Sinnes und einer Bildungskraft von unaufhaltsamer Energie. Das reifere Alter ist selten jener Hingebung fähig; die Erkenntniß des Mannichfaltigen, indem sie das Selbstbewußtseyn schärfte, hat ihm seine Unbefangenheit

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Schiller (Hrsg.): Thalia. Dritter Band welcher das IX. bis XII. Heft enthält.. Georg Joachim Göschen, Leipzig 1790–1791, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Thalia_Band3_Heft9_099.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)