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Er beschloß, wenigstens einmal uneingeladen zuzusehen, wie der Fremde in die Burg komme, und betrachtete sich deswegen die Gelegenheit genau. Seine Kammer, wohin er regelmäßig um acht Uhr geführt wurde, lag gegen das Thal hinaus; gerade entgegengesetzt der Seite, wo die Brücke über den Abgrund führte. Von hier war es also nicht möglich, ihn kommen zu sehen. Das große Zimmer im zweiten Stock, das nicht weit entfernt von seiner Kammer lag, wurde jede Nacht abgeschlossen, von dort aus konnte er also auch nicht hinabsehen. Auf dem Vorplatz, der die Kammern umher und den Saal verband, gingen zwar zwei Fenster gegen die Brücke hinaus, sie waren aber vergittert und hoch, so daß man zwar ins Freie hinüber, aber nicht hinab auf die Brücke sehen konnte.

Es blieb ihm daher nichts übrig, als sich irgendwo zu verbergen, wenn er den nächtlichen Besuch sehen wollte. Im ersten Stock war dies nicht möglich, weil dort so viele Leute wohnten, daß er leicht entdeckt werden konnte. Doch als er den Thorweg und die Ställe musterte, die unter dem Schloß in den Felsen gehauen waren, bemerkte er an der Zugbrücke eine Nische, die von den Thorflügeln bedeckt wurde, welche man nur, wenn der Feind vor den Thoren war, verschloß. Dies war der Ort, der ihm Sicherheit und zugleich Raum genug zu gewähren schien, um zu beobachten, was um ihn her vorging; links vor der Nische schloß sich die Zugbrücke an das Thor, rechts war die Treppe, die hinaufführte, vor ihm der Thorweg, den jeder gehen mußte, der ins Schloß kam. Dorthin beschloß er in der kommenden Nacht sich zu schleichen.

Um acht Uhr kam der Knappe mit der Lampe, um ihm wie gewöhnlich ins Bett zu leuchten. Der Herr des Schlosses und seine Tochter sagten ihm freundlich gute Nacht. Er stieg hinan in seine Kammer, er entließ den Knecht, der ihn sonst entkleidete, und warf sich angekleidet auf das Bette; er lauschte auf jeden Glockenschlag, den die Nachtluft aus dem Dorf hinter dem Walde herübertrug; oft schlossen sich seine Augen, oft schwebte er schon auf jener unsicheren Grenze zwischen Wachen und Schlafen, wo sich die Seele nur mit ermatteten Kräften gegen die Bande des [271] Schlummers sträubt, aber immer wieder rang er sich los, wenn seine Gedanken klar genug waren, um ihm seinen Zweck ins Gedächtnis zurückzuführen.

Zehn Uhr war längst vorüber; die Burg war still und tot, Georg raffte sich auf, zog die schweren Sporen und Stiefel ab, hüllte sich in seinen Mantel und öffnete behutsam die Thüre seiner Kammer. Er hielt den Atem an, um sich nicht durch Schnauben zu verraten, die Angeln seiner Thüre garrten, er hielt an, er lauschte, ob niemand diese verräterischen Töne gehört habe. Es blieb alles still; der Mond fiel in mattem Schein auf den Vorplatz; Georg pries sich glücklich, daß ihn dieses trügerische Licht nicht zum zweitenmal verraten werde. Er schlich weiter an die Wendeltreppe, noch einmal hielt er an, um zu lauschen, ob alles stille sei; er hörte nichts als das Sausen des Windes und das Rauschen der Eichen über der Brücke. Er stieg behutsam hinab. In der Stille der Nacht tönt alles lauter, und Dinge erwecken die Aufmerksamkeit, die man am Tage nicht beachtet hätte. Wenn Georgs Fuß auf ein Sandkörnchen trat, so rauschte es auf der gewölbten Wendeltreppe, daß er erschrak und glaubte, man müsse es im ganzen Hause gehört haben. Er kam an dem ersten Stock vorüber; er lauschte, er hörte niemand, aber auf dem Herd in der Küche flatterte ein lustiges Feuer. Jetzt war er unten. Zu dem Weg von seiner Kammer bis zum Thor, den er sonst in einem Augenblick zurücklegte, hatte er eine Viertelstunde verwandt.

Er stellte sich in die Nische und zog den Thorflügel noch näher zu sich her, so daß er völlig von ihm bedeckt war. Eine Spalte in der Thüre war groß genug, daß er durch sie alles beobachten konnte. Noch war alles still im Schloß. Nur flüchtige Tritte glaubte er über sich zu vernehmen, es war wohl Marie, die geschäftig hin- und herging.

Nach einer tödlich langen Viertelstunde schlug es im Dorfe eilf Uhr. Dies war die Zeit des nächtlichen Besuches; Georg schärfte sein Ohr, um zu vernehmen, wann er komme. Nach wenigen Minuten hörte er oben den Hund anschlagen, zugleich rief über dem Graben eine tiefe Stimme: „Lichtenstein!“

„Wer da?“ fragte man aus der Burg.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 270–271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_1_158.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)