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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

lange Meerrohr mit dem goldenen Knopf abtrat, um es dir als Reitpferd zu leihen!

Und rücke mit dem nächsten Glase um einige Jahre vorwärts! Erinnerst du dich des Morgens, als sie dich hineinführten zu einem wohlbekannten Mann, dessen Gesicht so blaß geworden war, dessen Hand du weinend küßtest, weinend, ohne zu wissen warum? Denn konntest du glauben, daß die harten Männer, die ihn in einen Schrank legten und mit schwarzen Tüchern zudeckten, konntest du glauben, daß sie ihn nicht mehr zurückbringen würden? Sei ruhig, auch er schlummert nur ein Weilchen. – Und gedenkst du des geheimnisvollen Freudelebens in Großvaters Büchersaal? Ach, damals kanntest du noch keine Bücher als den schnöden kleinen Bröder[1], deinen ärgsten Feind; wußtest nicht, daß jene Folianten noch zu etwas anderem in Leder gebunden seien, als um Hütten und Ställe daraus zu erbauen für dich und dein Vieh?

Gedenkst du noch des Frevels, wie roh du mit der deutschen Litteratur in kleinerem Format umgingst? Hast du nicht deinem Bruder den Lessing an den Kopf geworfen, wofür er dich freilich mit „Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen“[2] erbärmlich zudeckte? Damals dachtest du freilich nicht daran, daß du einst selbst Bücher machen werdest!

Tauchet auch ihr auf aus dem Nebel verschwundener Jahre, ihr Mauern des alten Schlosses; wie oft dienten deine halbverfallenen Gänge, dein Keller, dein Zwinger, deine Verliese der fröhlichen Schar zum Tummelplatz ihrer Spiele! Soldaten und Räuber, Nomaden und Karawanen! Wie wohl war uns oft in der untergeordneten Rolle eines Kosaken, während andere – Generale, Platows[3], Blüchers, Napoleon und dergleichen vorstellten und sich prügelten? Ja, waren wir nicht zuzeiten sogar ein Pferd, dem Freunde zu gefallen? O Himmel, wie schön ließ es sich dort spielen!

[19] Wo sind sie hin, die Gespielen deiner Kindheit, die Genossen jener goldenen Tage, wo kein Rang, kein Stand, kein Ansehn gilt; Grafen und Barone machen jetzt wohl die große Tour[4] oder dienen an Höfen als Kammerherren; arme Teufel pilgern als Handwerksbursche durchs Reich, das schwere Bündel auf dem Rücken, ohne Schuhe an den Füßen, haschen nach Pfennigen aus dem Kutschenschlag, die sie mit dem vom Regen gebräunten Hut künstlich aufzufassen wissen; und die Liebe drückt sie oft noch schwerer als das Bündel auf dem Rücken. Andere Kameraden, Seelen, die sich in der Schule durch geordneten Fleiß in Humanioribus hervorgethan, sitzen jetzt schon auf einer Pfarre, im Schlaf- oder Chorrock bei der Frau Liebsten. Andere sind Amtleute, wieder andere Apotheker, einige Referendäre und dergleichen, und nur wir beide, ausschweifend aus dem gewöhnlichen Gang der Dinge, sitzen hier im Bremer Ratskeller und thun uns gütlich im Weine. Und was sind denn wir Absonderliches geworden? Doktor? Das kann jeder werden, der vernünftig genug ist, eine Dissertation zu schreiben.

Doch ich trinke das vierte Glas, Seele. Das vierte! Fühlst du nicht einen gewissen Nexus zwischen dem Wein und der Zunge? zwischen der Zunge und dem Gaumen? Hier, behaupte ich, ist ein Scheideweg und daran ein Wegezeiger aufgestellt. Nämlich auf der einen Seite steht: „Weg nach dem Magen.“ Eine breite fahrbare Straße; es geht so schnell, so glitschend bergab! daher auch der gemeinere Stoff gewöhnlich diesen Weg nimmt. Der andere Arm des Zeigers heißt: „In den Kopf.“ Dahin ziehen die Geister, die sich schon im Faß lange genug bei dem schnöden gemeineren Stoff gelangweilt haben, und jetzt, da sie freien Lauf nehmen können, schielen sie nach dem Wegezeiger rechts hinauf. Während die Masse links hinabströmt, steigen sie aufwärts und finden sich im Wirtshaus zur Zirbeldrüse wieder zusammen. Es sind friedliche, verständige Leute, diese Geister. Sie erhellen dein Haus, o Seele, so lang ihrer vier oder fünf beisammen sind, nachher


  1. „Kleine lateinische Grammatik“ von Christian Gottlob Bröder (1744 bis 1819).
  2. Titel eines Romanes in Briefen (5 Bde., 1770–75), verfaßt von Joh. Timoth. Hermes (1738–1821).
  3. Matwei Iwanowitsch Graf Platow (1751–1818), russischer General und Hetman, kämpfte ruhmvoll gegen die Franzosen und Türken.
  4. Bei den deutschen Edelleuten war es seit dem Ausgange des Dreißigjährigen Krieges Sitte geworden, daß sie zur Vollendung ihrer äußeren Bildung in die benachbarten Länder, namentlich nach Paris, eine längere Reise unternahmen, die man die große Tour zu nennen pflegte.
Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 18–19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_011.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)