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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

Hand aus der Mauer kam, und der Arzt den Puls untersuchte. Sechs waren schon abgelesen und sämtlich für gesund erklärt; da las Thiuli als die siebende „Fatme“ ab, und eine kleine weiße Hand schlüpfte aus der Mauer. Zitternd vor Freude ergreift Mustafa diese Hand und erklärte sie mit wichtiger Miene für bedeutend krank. Thiuli ward sehr besorgt und befahl seinem weisen Chakamankabudibaba, schnell eine Arznei für sie zu bereiten. Der Arzt ging hinaus, schrieb auf einen kleinen Zettel: „Fatme! Ich will Dich retten, wenn Du Dich entschließen kannst, eine Arznei zu nehmen, die Dich auf zwei Tage tot macht; doch ich besitze das Mittel, Dich wieder zum Leben zu bringen. Willst Du, so sage nur, dieser Trank habe nicht geholfen, und es wird mir ein Zeichen sein, daß Du einwilligst.“

Bald kam er in das Zimmer zurück, wo Thiuli seiner harrte. Er brachte ein unschädliches Tränklein mit, fühlte der kranken Fatme noch einmal den Puls und schob ihr zugleich den Zettel unter ihr Armband; das Tränklein aber reichte er ihr durch die Öffnung in der Mauer. Thiuli schien in großen Sorgen wegen Fatme zu sein und schob die Untersuchung der übrigen bis auf eine gelegenere Zeit auf. Als er mit Mustafa das Zimmer verlassen hatte, sprach er mit traurigem Ton: „Chadibaba, sage aufrichtig, was hältst du von Fatmes Krankheit?“ Chakamankabudibaba antwortete mit einem tiefen Seufzer: „Ach Herr, möge der Prophet dir Trost verleihen! Sie hat ein schleichendes Fieber, das ihr wohl den Garaus machen kann.“ Da entbrannte der Zorn Thiulis: „Was sagst du, verfluchter Hund von einem Arzt? Sie, um die ich zweitausend Goldstücke gab, soll mir sterben wie eine Kuh? Wisse, daß wenn du sie nicht rettest, so hau’ ich dir den Kopf ab!“ Da merkte mein Bruder, daß er einen dummen Streich gemacht habe, und gab Thiuli wieder Hoffnung. Als sie noch so sprachen, kam ein schwarzer Sklave aus dem Serail, dem Arzt zu sagen, daß das Tränklein nicht geholfen habe. „Biete deine ganze Kunst auf, Chakamdababelba, oder wie du dich schreibst, ich zahl’ dir, was du willst“, schrie Thiuli-Kos, fast heulend vor Angst, so vieles Gold an dem Tod zu verlieren. „Ich will ihr ein Säftlein geben, das sie von aller [125] Not befreit“, antwortete der Arzt; „Ja! ja! gib ihr ein Säftlein“, schluchzte der alte Thiuli. Frohen Mutes ging Mustafa, seinen Schlaftrunk zu holen, und als er ihn dem schwarzen Sklaven gegeben und gezeigt hatte, wieviel man auf einmal nehmen müsse, ging er zu Thiuli und sagte, er müsse noch einige heilsame Kräuter am See holen, und eilte zum Thor hinaus. An dem See, der nicht weit von dem Schloß entfernt war, zog er seine falschen Kleider aus und warf sie ins Wasser, daß sie lustig umherschwammen; er selbst aber verbarg sich im Gesträuch, wartete die Nacht ab und schlich sich dann in den Begräbnisplatz an dem Schlosse Thiulis.

Als Mustafa kaum eine Stunde lang aus dem Schloß abwesend sein mochte, brachte man Thiuli die schreckliche Nachricht, daß seine Sklavin Fatme im Sterben liege. Er schickte hinaus an den See, um schnell den Arzt zu holen; aber bald kehrten seine Boten allein zurück und erzählten ihm, daß der arme Arzt ins Wasser gefallen und ertrunken sei; seinen schwarzen Talar sehe man mitten im See schwimmen, und hie und da gucke auch sein stattlicher Bart aus den Wellen hervor. Als Thiuli keine Rettung mehr sah, verwünschte er sich und die ganze Welt, raufte sich den Bart aus und rannte mit dem Kopf gegen die Mauer. Aber alles dies konnte nichts helfen; denn Fatme gab bald unter den Händen der übrigen Weiber den Geist auf. Als Thiuli die Nachricht ihres Todes hörte, befahl er, schnell einen Sarg zu machen, denn er konnte keinen Toten im Hause leiden, und ließ den Leichnam in das Begräbnishaus tragen. Die Träger brachten den Sarg dorthin, setzten ihn schnell nieder und entflohen, denn sie hatten unter den übrigen Särgen stöhnen und seufzen gehört.

Mustafa, der sich hinter den Särgen verborgen und von dort aus die Träger des Sarges in die Flucht gejagt hatte, kam hervor und zündete sich eine Lampe an, die er zu diesem Zweck mitgebracht hatte. Dann zog er ein Glas hervor, das die erweckende Arznei enthielt, und hob dann den Deckel von Fatmes Sarg. Aber welches Entsetzen befiel ihn, als sich ihm beim Scheine der Lampe ganz fremde Züge zeigten! Weder meine Schwester,

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 124–125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_2_064.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)