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haben, denn seine Witwe verlor die Pension und lebte von da an ärmlich und elend. In den zwei letzten Jahren fristeten sie ihr Leben meist vom Verkauf ihrer geringen Habe und waren jetzt eben an jenen äußersten Grad des Elends gekommen, wo dem Armen nichts übrigbleibt, als aus der Welt zu gehen.

Ich fragte das Mädchen, ob sie nicht ihr Verhältnis hätte bessern können, wenn sie etwa ihre Mutter auf andere Weise zu unterstützen gesucht hätte.

‚Sie meinen, wenn ich einen Dienst genommen hätte?‘ erwiderte sie ohne alle Empfindlichkeit. ‚Sehen Sie, das war nicht möglich. Vor der Krankheit der Mutter war ich viel zu jung, kaum vierzehn Jahre vorüber, und dann wurde sie auf einmal so elend, daß sie das Bett nicht verlassen konnte; da brauchte sie also immer jemand um sich, und konnte ich denn ihre Pflege einer Fremden überlassen? Ja, wenn sie gesund geblieben wäre, da hätte ich mit Freuden alle unsere früheren Verhältnisse verleugnet, wäre etwa in einen Putzladen gegangen oder als Gouvernante in ein anständiges Haus, denn ich habe manches gelernt, mein Herr! aber so ging es ja nicht!‘

Auch diesmal bat ich vergeblich, den Schleier zu lüften. Die Andeutungen, die sie über ihr Alter gegeben, reizten mich, ich gestehe es, nur noch mehr, das Gesicht dieses Mädchens zu sehen, die wenig über sechzehn Jahre haben konnte; aber sie bat mich so dringend, davon abzulassen, ihre Mutter habe ihr so triftige Gründe angegeben, daß es nimmer geschehen könne.

Wir trafen uns von da an alle drei Tage. Ich hatte immer einige kleine Arbeiten für sie, und pünktlich war sie damit fertig. Je fester ich in dem Betragen blieb, das ich einmal gegen sie angenommen, je strenger ich mich immer in den Grenzen des Anstandes hielt, desto zutraulicher und offener wurde das gute Mädchen. Sie gestand mir sogar, daß sie zu Hause die drei Tage über immer an den nächsten Abend denke; und ging es mir denn anders? Tag und Nacht beschäftigte ich mich mit diesem sonderbaren Wesen, das mir durch seinen gebildeten Geist, durch sein liebenswürdiges Zartgefühl, durch sein eigentümliches Verhältnis zu mir immer interessanter wurde.

[345] Der Frühling war indessen völlig heraufgekommen, und die Zeit war da, die ich mit Faldner schon längst zu einer Reise nach England festgesetzt hatte. Mancher hält es vielleicht für thöricht, was ich ausspreche, aber wahr ist es, daß ich an diese Reise nur mit Widerwillen dachte; Paris an sich hatte nichts Interessantes mehr für mich; aber jenes Mädchen hatte alle meine Sinne so gefangen genommen, daß ich einer längeren Trennung nur mit Wehmut entgegensah. Ausweichen konnte ich nicht, ohne mich lächerlich zu machen, denn es war sonst kein bündiger Grund vorhanden, die Reise aufzuschieben; ich schämte mich sogar vor mir selbst und stellte mir die ganze Thorheit meines Treibens vor; ich beschloß die Abreise, aber gewiß hat sich wohl keiner je so wenig auf England gefreut als ich.“


26.

„Acht Tage zuvor sagte ich es dem Mädchen, sie erschrak, sie weinte. Ich bat sie, ihre Mutter zu fragen, ob ich sie nicht besuchen dürfe, sie sagte es zu. Das nächste Mal aber brachte sie mir sehr betrübt die Antwort, daß mich ihre Mutter bitten lasse, diesen Besuch aufzugeben, der für ihren Gemütszustand allzu angreifend sein würde. Ich hatte jenen Besuch eigentlich nur darum nachgesucht, um mein Mädchen bei Tag und ohne Schleier zu sehen; ich verlangte dies also aufs neue wieder; aber sie bat mich, am Abend vor meiner Abreise noch einmal zu kommen, sie wolle ihre Mutter so lang’ bestürmen, bis sie die Erlaubnis erhalte, den Schleier aufzuheben. Unvergeßlich wird mir immer dieser Abend sein. Sie kam, und meine erste Frage war, ob die Mutter es erlaubt habe; sie sagte ja und hob von selbst den Schleier auf. Der Mond schien helle, und zitternd, begierig blickte ich unter den Hut. Aber die Erlaubnis schien nur teilweise gegeben zu sein, denn meine Schöne trug sogenannte Venezianer-Augen, die den obern Teil ihres Gesichtes verhüllten. Doch wie schön, wie reizend waren die Partien, welche frei waren! Eine feine, zierliche Nase, schöngeformte, blühende Wangen, ein kleiner, lieblicher Mund, ein Kinn wie aus Wachs geformt und ein schlanker, blendend

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig, Wien 1891–1909, Seite 344–345. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_3_175.png&oldid=- (Version vom 31.7.2018)