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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke

fragte Palvi, ob er das Märchen lesen solle. Sie nickte ein kurzes Ja, und er las. Der junge Rempen hatte während des Märchens sein Auge fest auf Elisen gerichtet. Er bemerkte, daß sie anfangs heiter zuhörte, mit einem Gesicht, wie man eine bekannte Lieblingsmelodie hört und die kommenden Wendungen zum voraus erratet; nach und nach wurde sie aufmerksamer; es kamen einige sonderbare Reime vor, die Palvi so rasch und mit so eigenem, singenden Tone vortrug, daß sie dadurch tief ergriffen schien; Erinnerungen schienen in ihr auf und nieder zu tauchen, sie preßte die Lippen zusammen, als unterdrücke sie einen inneren Schmerz; er sah, wie sie bleich und immer blässer wurde, er sah sie endlich ihrer Nachbarin etwas zuflüstern; sie standen beide auf, aber ebenso schnell sank Elise wieder kraftlos auf ihren Stuhl zurück.

Die Bestürzung der Gesellschaft war allgemein. Die Damen sprangen herzu, um zu helfen; aber sei es, daß, wie es oft zu geschehen pflegt, gerade das unangenehme Gefühl dieser störenden, geräuschvollen Hülfe sie wieder emporraffte, oder war es wirklich nur etwas Vorübergehendes, ein kleiner Schwindel, was sie befiel, sie stand beinahe in demselben Moment wieder aufrecht, bleich, aber lächelnd, und konnte sich bei der Gesellschaft entschuldigen, diese Störung veranlaßt zu haben.

An Erzählen und Vorlesen war übrigens nach diesem Vorfall diesen Abend nicht wohl wieder zu denken, und man nahm mit Vergnügen den Vorschlag an, sich am übernächsten Nachmittage in einem öffentlichen Gartensalon zu versammeln und „Die Ritter von Marienburg“ gemeinschaftlich zu genießen.

Der Stallmeister fühlte sich von dieser Szene auf mehr als eine Weise ergriffen; er konnte zwar Palvi nichts vorwerfen, er hatte zwei Worte mit Elisen, und diese öffentlich gesprochen; es war, wenn er selbst auch wirkliche Rechte auf das Fräulein gehabt hätte, kein Grund zur Eifersucht da, denn sie schien jenen sogar zu scheuen, zu fliehen; aber dennoch lag etwas so Rätselhaftes in Palvis Betragen, etwas so schmerzlich Rührendes in seinen Mienen, und doch wieder in seinem ganzen Wesen eine so gehaltene Würde, daß Rempen sich vornahm, was es ihn auch kosten möge, Aufschluß über ihn zu suchen. Der Oheim war [409] bemüht, die frühere Ordnung und Freude herzustellen. Spieltische wurden aufgetragen, und aus dem Salon lud eine Violine und die lockenden Akkorde einer Harfe die junge Welt zum Tanzen ein.

Mit bewachenden Blicken folgte der Stallmeister Palvi, der, noch immer das Buch in der Hand haltend, gedankenvoll umherging. In einer Vertiefung des Fensters saß Elise. Eben ging eine Freundin von ihr weg, und Rempen nahm wahr, wie sich Palvi ihr zögernd nahte, wie er ihr mit einer tiefen Verbeugung das Buch überreichte. Schnell trat auch er hinzu, und nur die breite, dunkelrote Gardine trennte ihn von den beiden.

„Elise“, hörte er den jungen Mann sagen, „seit zehn Monaten zum erstenmal wird es mir möglich, so nahe zu stehen, nur eine Bitte habe ich –“

„Schweigen Sie“, sagte sie in leisen, aber leidenschaftlichen Tönen, „ich will nichts hören, nichts sprechen, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich verachte Sie.“

„Nur das Warum möchte ich wissen“, bat er beinahe weinend, „nur ein Wörtchen, vielleicht können Sie mich doch verkennen.“

„Ich kenne sie zu gut“, erwiderte sie unmutig, „einen so niedrigen, gemeinen Menschen kann ich nur verabscheuen.“

„Gemein, niedrig?“ rief er bitter. „Und dennoch schwöre ich, daß ich Ihnen Achtung abzwingen will; diesen gemeinen, niedrigen Mann sollen Sie schätzen müssen! Wissen Sie, ich bin –“

„Daß Sie ein recht elender Mensch sind, weiß ich lange; darum bitte ich, entfernen Sie sich; diesen Zirkel werde ich aber nie mehr besuchen, wenn es Ihnen noch einmal einfallen sollte, mich anzureden.“

Bei diesen Worten stand sie rasch auf und entfernte sich mit einer kurzen Verbeugung gegen den unglücklichen jungen Mann.

So gewichtig diese Worte, so bedeutungsvoll diese Szene war, konnte sie doch dem Stallmeister kein deutlicheres Licht geben. Palvi durfte wagen, sie mit „Elise“ anzureden; sie behauptete, ihn ganz zu kennen, sie sprach so heftig ihre Gefühle aus, daß ihren Haß notwendig Liebe geboren haben mußte. – Er sah Palvi, nachdem er noch eine Weile in der Vertiefung des

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Wilhelm Hauff: W. Hauffs Werke. Bibliographisches Institut, Leipzig., Wien, 1891–1909, Seite 408–409. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Wilhelm_Hauff_Bd_4_205.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)