Seite:Denkwürdigkeiten einer deutschen Erzieherin in Belgien, England, Spanien, Portugal, Polen und Deutschland.pdf/306

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eingeräumte kurze Frist bis zu meinem Eintritt in die Familie auf das Ordnen kleiner Angelegenheiten verwenden.

War die Entdeckung, daß Madame V. eigentlich nur eine abenteuernde Jüdin sei, hinreichend, um meine Bekanntschaft mit derselben aufzugeben, so mußte unser Zusammenstoß auf dem gemeinschaftlichen Geschäftswege besonders auch ihrerseits eine gewissermaßen willkommene Ursache sein, sich von mir zu entfernen, was auch geschah, nachdem ich ihr die Mittheilung meines Engagements gemacht hatte. Ich nahm die letzten Ausbrüche ihres Zornes und Aergers als ein Aequivalent für meine streng genommen etwas egoistische Handlungsweise bezüglich unserer Stellenconcurrenz ruhig hin.

Mein ganzes Interesse concentrirte sich jetzt natürlich auf Miß Mary, meine neue Schutzbefohlene, welche mir demnächst vorgestellt werden sollte, denn ich hatte seither noch nicht das Vergnügen gehabt, sie zu sehen. Frau Th. forderte mich auf, sie nach ihrer „Sommerresidenz“ zu begleiten, welche unweit Brighton gelegen sei. Mein Muth sank allerdings bedeutend, als ich statt der angekündigten Sommerresidenz einen Weiler erblickte, dessen ärmliches Aeußere dem Innern ganz und gar entsprach, und mein Trost, vielleicht durch den Anblick der Insassin einigermaßen entschädigt zu werden, sollte auch bald eine schreckliche Enttäuschung erfahren.

Miß Mary war eine Zwergin von sehr zweifelhaftem Alter mit großem Kopfe, in welchem ein paar kleine graue Augen von boshaftem Aussehen herumrollten, während das übrige Antlitz durch dicke aufgeworfene Lippen, die noch zum Ueberflusse durch ein Schnurrbärtchen geziert waren, und eine aufgestülpte Nase entstellt wurde. Trotzdem sie die Kinderjahre längst überschritten haben mußte, so trug sie doch ganz den kurzen, flotten, in England für kleine Mädchen üblichen Kleiderschnitt, der ihre kurzen und dicken Beinchen zur Schau stellte. Ein noch ganz ungeschliffenes, ja beinahe pöbelhaftes Wesen ihrer Manieren, vollendeten die liebenswürdige Erscheinung, welcher ich Bildung und Politur beibringen sollte.

Leider barg dieser häßliche Körper auch eine häßliche Seele, denn Miß Mary verbitterte mir das Leben, und erschwerte mir das ohnehin schwere Geschäft der Erziehung auf alle nur mögliche Weise. Ihr Benehmen blieb trotz aller meiner Versuche, ihr in Güte oder Strenge beizukommen, ein verstocktes und brutales gegen mich, ja, als sie bemerkte,