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Sprachgebrauch eines polynesischen Inselstammes verwendet im täglichen Umgang mehr Worte, Bilder, Tropen und Metaphern als die konzise und schmucklose Sprache der grossen, modernen englischen Denker besitzt. Wenn wir Deutsche auf die erhabenen Werke und Menschen der Gegenwart, auf die Schriften Nietzsches, auf die Dramen Wagners mit Recht stolz sind, so könnten dennoch künftige Geschlechter auch in ihnen zu viel Rhetorik und „Kakozelie” finden, um sie als den Ausdruck wahrer kultureller Reife schätzen zu können. Die Überlegenheit der stilleren, englischen Kultur, die das „never interrupt” das elfte Gebot genannt hat und in der puritanischen Heiligung des Sonntags einen wahren Segen für Kopfarbeiter schuf, zeigt sich vor allem darin, dass sie die Menschen besser hören lehrt. Es ist nicht häufig, dass jugendliche Völker und Menschen an der Kunst der Sprache Mangel leiden. Dagegen mangelt ihnen stets die Kunst des Zuhörens. Bei uns redet alles. Am meisten unsere Staatsoberhäupter. Und niemand hat Ohren, niemand versteht zu hören …


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4.

Unendlich bevorzugt und liebenswürdig sind die seltenen Menschen, die einem sie anregenden Gegenstande gegenübertreten, ohne Bedürfnis, sich höchstselbst, in eigener Person dazu in Rapport zu versetzen. Eine schöne Blume muss gepflückt und berochen, ein anmutiges Kind geküsst und gestreichelt werden. Ein seltenes Tier wird alsbald geneckt und betastet; eine schöne Frau belästigt und haranguiert. – Wenn die gemeine Roture einem überlegenem Geiste, einem Reicheren, Stärkeren, Mächtigeren gegenübersteht, so ist unverkennbar ihr einziges Bemühen, dass sie nur ja „Eindruck mache“, „ernst genommen“, „estimiert“ werde, während der wahrhaft gebildete Mensch gerade dem Bessergestellten gegenüber sich schweigend zurückhalten, überall aber lernen und empfangen wird. Er wird lieber sprechen lassen, als sprechen. Es ist ihm gleichgültig, was man von ihm glaubt und hält. Er fühlt auch; dass es das gute Recht anständiger Leute ist, sich unbeschadet ihrer „Autorität“ mindestens dreimal an jedem Tage „blamieren“ zu dürfen. Nun aber blicke man auf das, was allen wohl gefällt und was sie alle lesen und schreiben. Man blicke auf all dieses „Reden über“. Dieses gegenseitige Sichbespiegeln, Sichsezieren, Sichbeobachten. Alles aus der Perspektive machtwilliger Eitelkeit und der Freude, andere nicht anerkennen zu brauchen oder im „Anerkennen“ sich selbst eine Folie zu geben. Der meiste „Publizismus“ lebt von diesen rohesten Formen seelischer Konkurrenz. Aber auch die meisten ernsten Bücher, die

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Theodor Lessing: Der Lärm. J. F. Bergmann, Wiesbaden 1908, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_L%C3%A4rm.pdf/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)