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die Türken mein Haus und unsere ganze Straße ein, in unserem Haus waren 250 Frauen und Kinder aus den Dörfern in der Umgegend von Wan und 50 aus der Stadt, die alle mit verbrannt sind. Es herrschte in Wan eine fürchterliche Pockenkrankheit, die täglich 60 bis 70 Kinder dahinraffte.

Im Juli mußten sich die Russen zurückziehen; infolgedessen mußten auch die überlebenden Armenier Wan verlassen. Meine Schwägerin mit meiner Frau, jede ein Kind in den Armen, und ich mit meinen zwei kleinen Buben, die 8 und 11 Jahre alt sind, mußten ohne jeden Proviant und Reisegepäck die Stadt verlassen. Von Wan bis Igdir – ach dieser Weg des Elendes und des Jammers, gleich der Hölle! – waren wir dreizehn Tage unterwegs, weil wir zu Fuß gehen mußten. Überall auf der Straße fanden wir Leichen. Auf den Feldern lagen die gefallenen Soldaten. In den Dörfern, die völlig verödet waren, war niemand mehr am Leben, außer den Hunden, die die Leichen fraßen. Unsere Karawane bestand, als wir Wan verließen, aus 872 Personen. Nur 93 davon sind in Igdir angekommen. Auch mein eignes Kind, der hoffnungsvolle Zolag, starb unterwegs, und ich konnte ihn nicht einmal begraben. Hingeworfen, weitergezogen oder vielmehr weitergeschoben.

Wir hatten 8 Tage lang unsere Kuh mit, die geduldig abwechselnd unsere Kinder trug. Sie mußte aber am 9. Tage unseres Elendes geschlachtet werden, um die Flüchtlinge am Leben zu erhalten.

Seit vier Wochen hüte ich das Bett und bin froh, daß ich noch am Leben bin. In Wan ist kein Mensch mehr, weder Türke noch Armenier. Hier sind wir mit noch 17 anderen in einem Zimmer einquartiert. Viele sterben durch Schmutz und Hunger. Sorge für Geld und Hilfe um Gottes willen, sonst können wir nicht am Leben bleiben.

In tiefer Trauer grüßt Dich Dein Lehrer
Parunag.


Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/146&oldid=- (Version vom 31.7.2018)