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abenteuerlichen Entschlüssen hinriß, hat bei aller selbstbewußten Unbekümmertheit nichts heldisches in seinem Wesen, eher etwas mädchenhaftes, wie es von Robespierre gesagt wird. In seiner schmucken Uniform mit Pelzmütze und Schnüren mehr Zigeunerbaron als Heros. Schon in Berlin wurde erzählt, daß über seinem Schreibtisch zur Rechten Napoleon, zur Linken Friedrich der Große und in der Mitte, als Kreuzung beider, sein eigenes Bildnis hing. In Stambul wollte jemand die gleiche Wanddekoration in seinem Arbeitsraum gesehen haben. Mag beides fabuliert sein, die Selbsteinschätzung Envers, die zwei Jahre zuvor seinem Rivalen, dem Kriegsminister Nazim Pascha, das Leben gekostet hatte, sollte dem türkischen Reich zum Verhängnis werden. Der unbeirrte Glaube an seinen Stern scheint ihn auch jetzt noch nicht verlassen zu haben. Man sagt, daß er nach seiner Flucht aus Konstantinopel im Kaukasus auf neue Abenteuer ausgeht.

Ich hatte einen Gruß an ihn aus Deutschland auszurichten und wir kamen sogleich in ein ungezwungenes Gespräch, das nahezu eine Stunde währte.

„Ich weiß nicht“, begann ich, um zur Sache zu kommen, „ob das was im Innern vor sich geht, mit Ihrem Wissen und Willen geschieht.“ Er wußte, was ich meinte und erwiderte: „Ich übernehme die Verantwortung für alles.“ Ich berührte einiges von dem, was ich in den letzten Tagen über Massendeportationen und Abschlachtungen von Frauen und Kindern erfahren hatte, und sagte ihm offen, daß der moralische Kredit, den sich die junge Türkei durch den Sturz Abdul Hamids und die Einführung der Konstitution erworben hätte, durch derartige Vorgänge vernichtet werden würde. Er hörte mich ruhig an, von allem, was ich sagte, unberührt, und erging sich dann in langen Reden über militärische Notwendigkeiten, die in der Kriegszeit das Vorgehen gegen die revolutionären Elemente des Reiches zur Pflicht gemacht hätten. Als Beweise für eine geplante Erhebung brachte er Fälle von Spionage und Desertionen

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Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite XIII. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/16&oldid=- (Version vom 31.7.2018)