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religiösen, in Wahrheit der politischen Propaganda unter den Armeniern dienten“, und einen „Seelenfang mit ausgesprochen politischer Tendenz“ betrieb, um „die christlichen Völkerschaften in der Türkei als gebrauchsfertige Werkzeuge zur Hand zu haben, wenn England sie einmal gegen die Türken benötigen sollte“. Zwar weiß jedermann, daß England seit dem Krimkriege das politische Interesse gehabt hat, die asiatische Türkei als Pufferstaat gegen Rußland zu erhalten, daß es nur notgedrungen seit Beginn dieses Krieges von seiner früheren Politik abgewichen ist. Nach diesem Kriege wird es vermutlich durch seine Mittelmeerpolitik und zum Schutz des Suezkanals gezwungen sein, seine alte Politik weiterzuführen. Das Mißgeschick, das Herrn Bratter begegnet ist, besteht aber darin, daß es in Armenien überhaupt keine englischen Missionen gibt,26) sondern lediglich amerikanische, denen er selbst das Zeugnis ausstellt, daß sie ohne politische Absichten in die Türkei kamen. Natürlich gefallen ihm auch die amerikanischen Missionare nicht, denn er weiß von ihnen ebensoviel als von den englischen. Wo er es brauchen kann, beruft er sich zwar auf das Zeugnis eines amerikanischen Missionars „des hoch angesehenen Geistlichen Cyrus Hamlin“, aber zuvor läßt er sich vom „Newyork Herald“, dem er ein besonderes Maß von Glaubwürdigkeit für deutsche Leser beizumessen scheint, ein nettes Leumundszeugnis über amerikanische Missionare ausstellen. „Enthusiatische, halbgebildete und unerfahrene Männer, die imstande sind, jedes Land der Welt in Verwirrung zu bringen.“ Will man sich über die grandiosen Werke der amerikanischen Schul-Missionen in der Türkei ein Urteil bilden, so tut ein Deutscher sicherlich besser, deutsche Sachkenner, z. B. Prof. D. Jul. Richter von der Berliner Universität, zu befragen,[1] als den „Newyork Herald“. Dann wird man nicht solche Böcke schießen, daß


[Ξ] 26) Nur unter den syrischen Nestorianern gab es eine kleine hochkirchliche Mission, die am Sitz des nestorianischen Patriarchen in Kodschannes bei Djulamerg im oberen Zabtal und in Urmia auf persischem Gebiet eine Vertretung hatte und eine Art Nuntiatur des Erzbischofs von Canterbury bei dem nestorianischen Patriarchat bildete. Diese hochkirchlichen Herren haben niemals mit Armenien oder der armenischen Frage zu tun gehabt und sich ausschließlich auf die syrischen Nestorianer beschränkt.


  1. Allgemeine evangelische Missionsgeschichte II. Band. Mission und Evangelisation im Orient. Gütersloh, 1908.
Empfohlene Zitierweise:
Johannes Lepsius: Der Todesgang des armenischen Volkes. Tempelverlag, Potsdam 1919, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Der_Todesgang_des_armenischen_Volkes.pdf/309&oldid=- (Version vom 31.7.2018)