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58c. Die weiße Taube.
1.
Wol hinter meines Vaters Hof

da fleugt ein weiße Tauben;
sie ist so manchem Falken entflogen,
ein Eul hat mirs gefangen.

2.
Die Eul die mirs gefangen hat,

die läßt mirs wiederum fliegen
gen Regensburg über die Mauren ein,
zu meiner Allerliebsten.

3.
Und do sie ein gen Regensburg kam,

fand sie Niemand darinnen
dann nur ein zarts Jungfräuelein,
das sung von heller Stimme.

4.
„So sing, so sing, Frau Nachtigall!

wenn ander Waldvögelein schweigen,
so will ich dir dein Gefieder aufpreisen
mit Gold und brauner Seiden.“

5.
‚‚‚Ei mein Gefieder aufpreist du mir nit,

ich kann mich selber wol schwingen;
ich bin ein kleins Waldvögelein,
kein Mann soll mich nit zwingen.‘‘‘

6.
„Bist du ein kleins Waldvögelein,

so schwing dich von der Erden,
daß dich der kühle Thau nit netz,
kein Schnee, kein Reif darneben!“

7.
‚‚‚Und netzt mich denn der kühle Thau,

so trücknet mich Frau Sonne;
hab ich ein brauns Maidlein im Herzen hold,
zu ihr kann ich nit kommen.

8.
‚‚‚Wenn der best Wein im alten Faß wär,

darin müßt er ersauren:
so wenn ein jungs Maidlein ein alten Mann nimmt,
ihr junges Herz muß trauren.

9.
‚‚‚Und wenn die Linden das Laub verleurt,

so trauren all die Aeste.
So bitt ich dich, zarts Jungfräulein,
halt du dein Kränzlein feste!‘‘‘

10.
„Soll ich mein Kränzlein behalten fest,

will es mir doch nimmer bleiben,
viel lieber wollt ich mit eim jungen Knaben
mein Zeit und Weil vertreiben.“

11.
Und wär der Apfel noch so roth,

so findt man ein Würmlein drinnen:
so welche Jungfräulein säuberlich sind,
die können viel falscher sinnen.

12.
Gott behüt den Jungfrauen ihr Ehr

vor allen falschen Zungen!
Hab ich ein brauns Maidlein im Herzen hold,
zu ihr kann ich nit kummen.

13.
Und wer sind die das Liedlein sangen?

so frei haben gesungen?
Das haben gethan zween Schreiber gut,
ein alter und ein junger.

(Flieg. Bl. 8. 4 Bl. „Ein schönes Liedt.“ etc. [Von 2 Liedern das 1ste.] Am Ende: „Gedruckt zu Nürnberg durch Valentin Newber.“ Zwischen 1550–71. – Vgl. Uhland I, 51. [Um 1516].)

4. Aufpreisen, aufbreisen, aufschnüren, putzen. – 11. Säuberlich, sauber, schön. – Beim Singen wurden in jeder Str. die beiden Schlußsilben der 3. Zeile wiederholt; z. B. in Str. 1: entflogn in Str. 2: ja ein, in Str. 3: ja lein u. s. w.

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Erk (Herausgeber): Deutscher Liederhort. Verlag von Th. Chr. Fr. Enslin, Berlin 1856, Seite 202. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutscher_Liederhort_(Erk)_202.jpg&oldid=- (Version vom 27.10.2019)