Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 1.pdf/110

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

solange sie in Preußen bekämpft wird. Auf der anderen Seite würde der Versuch einer Verständigung, den die Reichsregierung unternimmt, denselben verwirrenden und zerrüttenden Einfluß auf Preußen haben wie ein gleicher Versuch in Preußen selbst. Wird im Reich ohne Rücksicht auf Preußen regiert, so muß dadurch in Preußen Reichsverdrossenheit großgezogen werden. Wird in Preußen ohne Rücksicht auf das Reich regiert, so besteht die Gefahr, daß im nichtpreußischen Deutschland Mißtrauen und Abneigung gegen den führenden Bundesstaat um sich greifen. Es ist für Preußen immer verhängnisvoll gewesen, wenn notwendige Reformen nicht rechtzeitig, d. h. solange sie in maßvoller Form möglich waren, vorgenommen, sondern kurzsichtig und hartnäckig verweigert wurden, bis sie schließlich, durch die Verhältnisse erzwungen, in radikalerer Form durchgeführt werden mußten. Die Kunst des Regierens wird sich bei uns immer darin am meisten zu betätigen haben, daß die Harmonie zwischen Preußen und Deutschland nicht nur dem Buchstaben, sondern auch dem Geiste nach aufrechterhalten bleibt.

Die Eigenart unserer staatlichen Zustände, wie die Beschaffenheit unserer sozialdemokratischen Partei stehen einer Politik der Aussöhnung in gleicher Weise entgegen. Eine gewaltsame Ausrottung der Sozialdemokratie ist ausgeschlossen. Auf diesen beiden direkten Wegen ist eine Lösung des sozialdemokratischen Problems, eine Beschwörung dieser vor uns stehenden Gefahr nicht zu erreichen. So bleibt nur die Hoffnung auf indirekte Überwindung, indem die Sozialdemokratie an ihren Ursachen und treibenden Kräften erfaßt wird.

Isolierung der Sozialdemokratie.

Die sozialdemokratische Bewegung ist ihrem Charakter nach revolutionär. Es mag dahingestellt bleiben, ob sie zu revolutionären Taten schreiten wird. Ihre Ziele, die eine grundstürzende Umwandlung unseres gesamten öffentlichen Lebens bedingen, sind revolutionär sans phrase. Man wird deshalb für diese Bewegung die Erfahrungen gelten lassen müssen, die mit jeder revolutionären Bewegung gemacht worden sind. Die Geschichte zeigt, daß eine radikale Strömung selten ohne äußeren Anlaß maßvoller geworden ist, daß der neue Anhang, den sich eine radikale Partei erwirbt, auf die Dauer selten mäßigend wirkt, meist geeignet ist, die Stoßkraft zu erhöhen und geneigt, sich der radikalen Führung mehr und mehr zu fügen. Wie in jeder Partei haben auch bisher in der sozialdemokratischen die radikalen Elemente in entscheidenden Augenblicken die Führung behauptet, weil sie der Masse der Parteianhänger als die zielbewußtesten erschienen. Es wird oft die Ansicht ausgesprochen, die Sozialdemokratie werde in dem Maße ungefährlicher und besonnener werden, in dem sich ihr Angehörige der gebildeten Volksschichten anschließen. Solcher Glaube widerspricht jeder Erfahrung. Die Gebildeten in der Sozialdemokratie sind nicht die Brücke, auf der die proletarischen Massen sich den Vertretern der geltenden Ordnung nähern, sondern sie sind eine Brücke, auf der die Intelligenz zu den Massen hinüberschreitet. Der Zulauf der Gebildeten aber macht eine revolutionäre Bewegung erst zu einer ernsten Gefahr. Die Geschichte lehrt, daß revolutionäre Bewegungen siegreich sein können, wenn sich die Stimmung der Intellektuellen, der bürgerlichen Intelligenz mit dem Drange der Massen verbindet. So war es in der großen Revolution. Solange

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/110&oldid=- (Version vom 31.7.2018)