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englischer Gewerkschaften eine Rundreise durch Deutschland unternahm, um unsere Arbeiterverhältnisse zu studieren, richtete, nachdem sie von unseren Wohlfahrtseinrichtungen Kenntnis genommen hatten, einer der Engländer an einen seiner deutschen Führer, nebenbei gesagt, einen Sozialdemokraten, die erstaunte Frage: „Ja, warum agitiert ihr denn eigentlich noch?“

Wirtschaftspolitik und Parteipolitik.

Wenn trotzdem die wirtschaftlichen Kämpfe nicht ruhen, die Gegensätze zwischen den Erwerbsständen sich nicht mildern wollen, wenn im Gegenteil die Leidenschaften auf wirtschaftlichem Gebiet aufgewühlter, Hader und Mißgunst zwischen den Erwerbsständen erbitterter sind als je, so liegt dafür die Ursache nicht in einer Brüchigkeit, einer Unausgeglichenheit unserer Wirtschaftspolitik, sondern in der Unvollkommenheit unseres innerpolitischen Lebens. Wie die deutschen Parteien in rein politischen Fragen ihre Haltung mit Vorliebe nicht nach Erwägungen der Zweckmäßigkeit, sondern nach der jeweiligen Feindschaft gegen diese oder jene Partei orientieren, so noch weit mehr in wirtschaftspolitischer Beziehung. Deutschland ist vielleicht das einzige Land, in dem die praktischen wirtschaftlichen Fragen peinlich und kleinlich auf den Leisten der Parteipolitik geschlagen werden. Mit alleiniger Ausnahme des auch in diesen Dingen praktischen Zentrums, hat jede Partei, sei sie groß, sei sie klein, ihre eigene Wirtschaftspolitik, oder wenigstens ihre wirtschaftspolitische Spezialität, der die wirtschaftlichen Fragen untergeordnet werden. Das gehört zum parteipolitischen Dogmatismus. Wir haben fast so viele verschiedene finanzpolitische, agrarpolitische, handelspolitische, verkehrspolitische, sozialpolitische, zollpolitische, steuerpolitische und sonstige wirtschaftspolitische Auffassungen wie wir Parteien haben. Der deutsche Parteimann spinnt sich so fest in seine wirtschaftspolitischen Parteianschauungen ein, daß er alsbald autosuggestiv diese Anschauungen für unlösbar verbunden mit seinen eigenen Berufsinteressen und Magenfragen hält und nach der wirtschaftspolitischen Seite hin den Parteikampf mit der Erbitterung führt, die nur der Egoismus erzeugen kann. Wir haben keine Partei, die sagen darf, daß sie nur einen einzigen Erwerbsstand vertritt, nicht einmal die Sozialdemokratie darf das von sich behaupten. Trotzdem haben bis auf das Zentrum alle den wirtschaftspolitischen Kampf oft mehr oder minder so geführt, als gälte es für jede nur die Vertretung eines einzigen Erwerbsstandes. Freilich stützen sich die Konservativen vorwiegend auf den Grundbesitz, die Nationalliberalen auf die Industrie, der Freisinn auf den Handel. Das liegt an den politischen Traditionen der betreffenden Volkskreise. Wenn sich aber die Parteien mehr und mehr zu berufsständischen Interessenvertretungen entwickeln, so hat das seine großen Gefahren, in wirtschaftlicher Beziehung wie in politischer und nationaler. Stehen sich die Erwerbsstände schließlich als politische Parteien gegenüber, so wird von einer Erledigung wirtschaftspolitischer Fragen, bei der alle Erwerbszweige ihren Vorteil finden, nicht mehr die Rede sein. Die Interessengegensätze werden völlig unversöhnlich werden. Jeder Stand wird im Nachteil des anderen den eigenen Vorteil sehen. Und die wirtschaftlichen Differenzen werden, wenn nicht eine starke Regierung die Führung in Händen hat, nach Art parteipolitischer

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/131&oldid=- (Version vom 31.7.2018)