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Die Schlagworte „Versöhnungspolitik“ und „Scharfmacherpolitik“, mit denen sich die parteipolitischen Gegner und Freunde einer bewußten nationalen Ostmarkenpolitik bedenken, bezeichnen die verschiedenen Phasen unserer preußischen Polenpolitik nur oberflächlich. Das Ziel der preußischen Ostmarkenpolitik ist stets das der Versöhnung der Staatsangehörigen polnischer Nationalität mit dem preußischen Staat und der deutschen Nation gewesen. Es kann sich immer nur um verschiedene Mittel handeln, mit denen die Versöhnung erreicht werden soll. Um etwas anderes hat es sich niemals gehandelt, mögen nun Zerboni, die Ratgeber Friedrich Wilhelms IV. und Caprivi oder Flottwell, Grolmann, Bismarck, Miquel und meine Wenigkeit unserer jeweiligen Ostmarkenpolitik den Charakter bestimmt haben. Eine Aussöhnung unserer polnischen Mitbürger mit ihrer Zugehörigkeit zum preußischen Staat und zum Deutschen Reich, das muß am letzten Ende einmal durch unsere Ostmarkenpolitik erreicht werden. Nur darf diese Aussöhnung nicht gehen auf Kosten unseres nationalen Besitzstandes im Osten und auf Kosten der Einheit, der Souveränität des preußischen Staates.

Selten ist ein Staat den in seinen Grenzen lebenden Angehörigen einer anderen Nationalität vorurteilsloser und wohlwollender gegenübergetreten als Preußen seinen Polen im zweiten und dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Die Segnungen der Stein-Hardenbergischen Reformen wurden den Polen in vollem Umfange zuteil, ein landwirtschaftlicher Kreditverein half der nach den Kriegen tief darniederliegenden polnischen Landwirtschaft, ein Provinziallandtag in Posen sorgte für Vertretung der örtlichen polnischen Interessen, die Landräte durften gewählt werden und wurden polnisch gewählt, ein polnischer Statthalter wurde dem preußischen Oberpräsidenten zur Seite gesetzt. Die Quittung war der Aufstand des Jahres 1830. Preußen hatte nicht nur ohne jeden Erfolg seine Polen heiß umworben. Es hatte mehr getan, hatte den Polen der Ostmark zuliebe die Sorge um die ostmärkischen Deutschen vergessen, indem es dieses deutsche und polnische Land unter eine rein polnische Verwaltung gegeben hatte.

Die Männer, die von 1830 bis 1840 in Posen wirkten, der Oberpräsident v. Flottwell und der kommandierende General v. Grolmann besannen sich wieder der deutsch-nationalen Pflichten Preußens im Osten. Es begann die zweite Phase der Ostmarkenpolitik, die wieder anknüpfte an die nationalen Traditionen des Mittelalters, an die Politik des großen Königs und die der Ostmarkenpolitik Bismarcks und meiner Ostmarkenpolitik die Wege gewiesen hat. Der polnische Statthalter verschwand, die Aufhebung der Landratswahl gewährte die Möglichkeit der Bestellung deutscher Beamter und es wurde, den kargen Staatsmitteln entsprechend bescheiden, mit dem Ansetzen deutscher Gutsbesitzer in den Ostmarken begonnen. Die Flottwellsche Politik hatte so wenig wie die später auf seinen Bahnen fortgeführte Ostmarkenpolitik etwa einen polenfeindlichen Charakter. Sie war im Gegensatz zu der mißlungenen Politik zwischen 1815 und 1830 nur darauf bedacht, dem Deutschtum neben dem Polentum wieder zu seinem Recht zu verhelfen, sie erinnerte sich der deutschen Pflichten, die Preußen mit dem Erwerb der alten östlichen Kolonistenlande übernommen hatte. Was den Polen genommen wurde, das waren in der Tat nicht staatsbürgerliche Rechte, sondern Vorrechte.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/140&oldid=- (Version vom 31.7.2018)