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bis zu dieser Stunde nicht in Kraft getreten. An ihrer Stelle gilt die ursprünglich als sog. Notverordnung erlassene, durch die Zustimmung der Kammern mit Gesetzeskraft ausgestattete Verordnung vom 30. Mai 1849. Diese Verordnung beruht auf dem Dreiklassenwahlsystem, d. h. nach der Steuerleistung werden in den einzelnen Wahlbezirken – ganz kleinen Personaleinheiten (bis zu 1800 Seelen) – die sog. Urwähler, d. i. die Wahlberechtigten in drei Klassen eingeteilt behufs Wahl der Wahlmänner, die sodann die Abgeordneten wählen. Über die bei der Berechnung in Betracht kommenden Steuern („direkte Staats-, Gemeinde-, Kreis-, Bezirks- und Provinzialsteuern“) wurde nach der großen Miquelschen Steuerreform 1893 ein besonderes Gesetz erlassen. Im übrigen blieb das Wahlsystem unverändert. Ein Gesetzentwurf der Regierung schlug in der ihm durch das Abgeordnetenhaus unter Zustimmung der Regierung gegebenen Fassung eine Änderung dieses Systemes dahin vor, daß

1. an Stelle der öffentlichen künftig geheime,

2. an Stelle der indirekten direkte Wahl zu treten habe und

3. für das, auch künftig in drei Klassen zu gliedernde Wahlrecht, außer den Steuern auch noch andere Momente (die sog. „Kulturträger“) in Betracht kommen sollten. Die parlamentarischen Gegensätze hatten wie bemerkt im Abgeordnetenhause schließlich zu einem Ausgleich gebracht werden können, den aber das Herrenhaus mit erheblicher Mehrheit ablehnte. Daß die Frage der Wahlreform früher oder später wieder aufgenommen werden muß, kann nicht bezweifelt werden. Die Wahl des hierfür geeigneten Zeitpunktes wird unter vorsichtiger Abwägung aller in Betracht kommenden staatlichen Gesamtinteressen des Reiches wie Preußens der Weisheit der Regierung vorbehalten werden müssen.

3. Staatshaushalt.

Zur Ausführung der Verfassungsvorschrift über das Staatshaushaltsgesetz wurde 1898 in Preußen ein sog. Komptabilitätsgesetz erlassen, das genaue Vorschriften für die Einrichtung des Staatshaushaltes und die daraus sich ergebenden Rechtsfolgen enthält.

Dieses Gesetz stellt den Abschluß langer parlamentarischer und wissenschaftlicher Kämpfe dar und entscheidet die vielumstrittene Frage über die Rechtsnatur des Staatshaushaltes in dem Sinne, daß die volle Gesetzeskraft des Staatshaushaltes keinem Zweifel mehr unterliegen kann. Das Gesetz gibt eingehende Vorschriften über die Gliederung der Einnahmen und Ausgaben im Etat; es stellt ferner den hochwichtigen Grundsatz fest, daß Privatrechte durch den Etat weder begründet noch beseitigt werden können; es schreibt für die ausführenden Behörden besondere Kassenetats auf Grund des Hauptetats vor und ordnet die Frage der außeretatsmäßigen Einnahmen und Ausgaben. Alle Einnahmen werden, bestimmte Ausnahmen vorbehalten, erhoben als Deckungsmittel für den Gesamtbedarf des Staates; die Nichterhebung gesetzlicher Einnahmen im Einzelfall kann nur kraft gesetzlicher Erlaubnis oder königlicher Bestimmung erfolgen. Die zu zahlenden Besoldungen müssen auf gesetzlicher Grundlage beruhen; Remunerationen oder Unterstützungen dürfen nur aus den hierfür bestimmten Fonds gegeben werden; die Berechnung der Dienstwohnung erfolgt nach

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/185&oldid=- (Version vom 4.8.2020)