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Der lange wogende Streit, der der Sache selbst nicht förderlich war, ist allmählich der besseren Einsicht gewichen, daß nach dem Wortlaute der Verfassung an sich alle Arten von Steuern dem Zugriff des Reiches offenstehen. Die Steuergesetzgebung der letzten Jahre hat dieser Anschauung auch praktische Geltung verschafft, zuerst durch Einführung der Erbschaftssteuer im Jahre 1906, die die Wissenschaft wenigstens übereinstimmend als direkte Steuer bezeichnet, dann der Wertzuwachssteuer von 1911, und vor allem der erst kürzlich bewilligten Besitzsteuer und des Wehrbeitrags. Daß das Reich tatsächlich bis zur Finanzreform von 1906 nur Verbrauchs- und Verkehrssteuern hatte, hat seine guten Gründe, von denen nachher die Rede sein wird.

Die Zoll- und Steuerreformen von 1879–87.

Die Steuerausrüstung des Reiches bald nach seiner Gründung war also in keiner Weise den Anforderungen gewachsen, welche die rasch sich erweiternden Aufgaben stellten. Die Zölle waren um 1878 infolge des freihändlerischen Tarifs auf einen Mindestbetrag von 100 Mill. M. gesunken, die Tabaksteuer brachte kaum 1 Million, die Rübenzuckersteuer zwischen 40 und 50, die Salzsteuer etwa 33, die Branntweinsteuer 35, die Brausteuer 15, die Wechselstempelsteuer 6 Mill. M. Die ganze Steuereinnahme betrug damals etwa 240 Mill. M. Zu ihrer Ergänzung mußten die Matrikularbeiträge in der beträchtlichen Höhe von gegen 90 Millionen herangezogen werden, und schon meldeten sich die ersten Anleihen, mittels deren man 1876–78 131 Millionen deckte. Bei dem Wachsen der Ausgaben drohte eine neue Erhöhung der Matrikularbeiträge, die schon aus politischen Gründen vermieden werden mußte. Die wirtschaftliche Depression ließ eine Abkehr vom Freihandelssystem angezeigt erscheinen, die auch den Finanzen zugute kommen sollte. Daneben sollten noch andere Einnahmequellen eröffnet, Bier, Tabak und Branntwein stärker herangezogen, eine Spielkartensteuer und Stempelabgabe eingeführt werden. Auf die Zoll- und Finanzreform von 1873 setzte die Reichsregierung große Hoffnungen: durch sie sollte nicht nur der Bedarf des Reiches ausreichend befriedigt, sondern auch die Landesfinanzen dotiert werden. Aber der große Finanzplan kam nur in stark verstümmelter Gestalt zur Ausführung. Zwar der Zolltarif erlangte in der Hauptsache die Zustimmung des Reichstages, auch der Spielkartenstempel wurde angenommen, die Brausteuererhöhung jedoch fiel ganz und Tabakzoll- und -steuer wurden gegenüber den Vorschlägen wesentlich erniedrigt. Da aber die Ausgaben des Reiches weiter wuchsen, so mußte man schon 1880 und 1881 auf weitere Vermehrung der Reichssteuern bedacht sein. Aber auch diesmal wurde nur der kleinere Teil der Anforderungen bewilligt. Die Tabakwertsteuer wurde 1881, das Tabaksmonopol 1882, die Erhöhung der Biersteuer 1880 und 1881 abgelehnt, nur eine niedrige Steuer auf Aktien, Renten- und Schuldverschreibungen, Schlußnoten und Lotterielose fand Annahme. Und zunächst ging es so auch; denn allmählich mit der Besserung der Wirtschaftsverhältnisse und infolge der Erhöhung des Zolltarifs in den Jahren 1885 und 1887 stiegen die Einnahmen, so daß den Bundesstaaten erhebliche Überschüsse zugewiesen werden konnten. Freilich mußten daneben seit 1879 durchschnittlich 43,8 Mill. M. Schulden im Jahr aufgenommen werden.

Inzwischen waren aber die fortdauernden und einmaligen Ausgaben neuerdings

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 245. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/261&oldid=- (Version vom 4.8.2020)