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Solche menschenfreundliche Anteilnahme pflegt selten einen überwiegenden Einfluß auf die politischen Entschließungen der Regierung eines großen Staates auszuüben. Für die Richtung der englischen Politik sind die Rückwirkungen der europäischen Machtverhältnisse auf die englische Seeherrschaft maßgebend. Und jede Machtverschiebung, die eine solche Wirkung nicht im Gefolge haben konnte, ist der englischen Regierung immer ziemlich gleichgültig gewesen. Wenn England traditionell, das heißt seinen unveränderlichen nationalen Interessen angemessen, der jeweils stärksten Kontinentalmacht unfreundlich oder mindestens argwöhnisch gegenübersteht, so liegt der Grund vornehmlich in der Bedeutung, die England der überlegenen kontinentalen Macht für die überseeische Politik beimißt. Eine europäische Großmacht, die ihre militärische Stärke so drastisch gezeigt hat, daß sie im normalen Lauf der Dinge eines Angriffs auf ihre Grenzen nicht gewärtig zu sein braucht, gewinnt gewissermaßen die nationalen Existenzbedingungen, durch die England zur ersten See- und Handelsmacht der Welt geworden ist. England dürfte mit seinen Kräften und seinem Wagemut unbesorgt auf das Weltmeer gehen, weil es seine heimischen Grenzen durch die umgebende See vor feindlichen Angriffen geschützt wußte. Besitzt eine Kontinentalmacht eben diesen Schutz der Grenzen in ihrer gefürchteten, siegreichen und überlegenen Armee, so gewinnt sie die Freiheit zu überseeischer Politik, die England seiner geographischen Lage dankt. Sie wird Wettbewerberin auf jenem Felde, auf dem England die Herrschaft beansprucht. Die englische Politik fußt hier auf den Erfahrungen der Geschichte, man könnte fast sagen, auf der Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung der Nationen und Staaten. Noch jedes Volk mit gesundem Instinkt und lebensfähiger Staatsordnung hat an die Meeresküste gedrängt, wenn sie die Natur ihm versagt hatte. Um Küstenstriche und Hafenplätze ist am hartnäckigsten und bittersten gerungen worden, von Kerkyra und Potidäa, um die sich der Peloponnesische Krieg entzündete, bis zu Kavalla, um das in unseren Tagen Griechen und Bulgaren haderten. Völker, die das Meer nicht gewinnen konnten oder von ihm abgedrängt wurden, schieden stillschweigend aus dem großen weltgeschichtlichen Wettbewerb aus. Der Besitz der Meeresküste bedeutet aber nichts anderes als die Möglichkeit zu überseeischer Kraftentfaltung und letzten Endes die Möglichkeit, die kontinentale Politik zur Weltpolitik zu weiten. Die Völker Europas, die ihre Küsten und Häfen in diesem Sinne nicht nutzten, konnten es nicht tun, weil sie ihre gesamte nationale Kraft zur Verteidigung ihrer Grenzen gegen ihre Widersacher auf dem Festlande nötig hatten. So mußten die weitausschauenden kolonialpolitischen Pläne des Großen Kurfürsten von seinen Nachfolgern aufgegeben werden.

Der stärksten Kontinentalmacht standen die weltpolitischen Wege stets am freiesten offen. Auf diesen Wegen aber hielt England die Wacht. Als Ludwig XIV. bei Karl II. ein französisch-englisches Bündnis anregte, erwiderte ihm dieser im übrigen sehr franzosenfreundliche englische König, es stünden einem aufrichtigen Bündnis gewisse Hindernisse im Wege, und von diesen sei das vornehmste die Mühe, die sich Frankreich gebe, eine achtunggebietende Seemacht zu werden. Das sei für England, das nur durch seinen Handel und seine Kriegsmarine Bedeutung haben könne, ein solcher Grund zum Argwohn, daß jeder Schritt, den Frankreich in dieser Richtung tun werde, die Eifersucht

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 15. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/31&oldid=- (Version vom 31.7.2018)