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I. Einführung.

Die Geschichte unserer inneren Politik ist, von wenigen lichten Epochen abgesehen, eine Geschichte politischer Irrtümer. Neben der reichen Fülle seltener Vorzüge und großer Eigenschaften, die dem deutschen Volke gegeben sind, ist ihm das politische Talent versagt geblieben. Keiner Nation der Erde ist es so schwer geworden, sich feste und dauerhafte politische Lebensformen zu gewinnen wie der deutschen, obwohl wir nach dem Untergange der antiken Welt, nach den Stürmen der Völkerwanderung am frühesten die auf Macht gegründete Ruhe nationaler Existenz gewannen, die die Voraussetzung zur Formung eigenen politischen Lebens ist. So leicht es unserer Kriegstüchtigkeit gefallen ist, der äußeren Hemmungen und Störungen unseres nationalen Lebens Herr zu werden, so schwer war es uns zu allen Zeiten, auch kleine, geringfügige Hemmungen unserer eigenen politischen Entwicklung zu überwinden. Andere Völker haben es oft erlebt, daß kriegerisches Mißgeschick, Mißgeschick in ihrer auswärtigen Politik schwer schädigend, ja umstürzend auf ihr innerpolitisches Leben wirkten. Wir Deutschen haben uns durch unser politisches Ungeschick, durch die Formlosigkeit und Verworrenheit unseres inneren nationalen Lebens nur zu oft um die Erfolge unserer Waffen betrogen, haben uns eine erfolgreiche nationale auswärtige Politik durch engherzige und kurzsichtige innere Politik jahrhundertelang unmöglich gemacht. Wir sind kein politisches Volk. Nicht, daß es uns an eindringendem Verständnis fehlte oder je gefehlt hätte für den Zusammenhang der politischen Dinge, für die Wesensart und Verbindung der religiösen, sittlichen, der sozialen, rechtlichen und wirtschaftlichen Kräfte, die die Politik bedingen. Dieses politische Wissen haben wir stets, je nach dem Stande der Zeiterkenntnis und darüber hinaus besessen. Nicht einmal an Erkenntnis unserer eigenen national eigentümlichen politischen Gebrechen hat es uns gefehlt. Aber die große Kunst, von der Einsicht unmittelbar zur Nutzanwendung fortzuschreiten, oder gar die größere Kunst, mit sicherem schöpferischen Instinkt politisch das Rechte auch ohne Nachdenken und ohne Grübeln zu tun, die hat uns gefehlt und fehlt uns vielfach heute noch. Wie wäre es sonst zu erklären, daß im Nationalitätenkampf der Deutsche leider nur zu oft dem Tschechen und Slowenen, Magyaren und Polen, Franzosen und Italiener erlegen ist und noch heute unterliegt? Daß er auf diesem Felde gegenüber fast allen seinen Nachbarn den kürzeren zu ziehen pflegt? Politisch wie auf keinem anderen Lebensgebiet leben wir in einem offenbaren Mißverhältnis zwischen Wissen und Können. Wir dürfen uns gegenwärtig einer besonderen Blüte der Staatswissenschaften, insbesondere der Nationalökonomie rühmen. Die Wirkungen der entwickelten Gelehrsamkeit auf die politische Praxis werden wir selten verspüren. Das liegt nicht daran, daß am Wissen etwa einer kleinen Schicht Gebildeter die breite Masse keinen Anteil suchte und kein Interesse hätte. Das deutsche Volk ist im Gegenteil mehr als jedes andere und auch in den unteren Volksschichten lernbegierig und lernfähig. Das ist unter vielen schönen Zügen

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 53. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/69&oldid=- (Version vom 31.7.2018)