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die Konfession zusammengehalten wird, ist und bleibt das Zentrum, mögen Kölner und Berliner Richtung noch so spitzfindig über den Begriff einer konfessionellen Partei streiten. Das Zentrum ist die Vertretung der konfessionellen Minderheit. Es hat als solche seine Berechtigung, darf aber keine politische Trumpfstellung beanspruchen. Gewiß neigt jede Partei, die sich durch die Mehrheitsverhältnisse wie durch eigene Stärke in hervorragender parlamentarischer Machtstellung sieht, dazu, ihre Nacht zu mißbrauchen. So ging es den Freisinnigen während der Konfliktsjahre, den Nationalliberalen in der ersten Hälfte der siebziger Jahre, den Konservativen im preußischen Abgeordnetenhause, als sie die wohlbegründeten und weitausschauenden Kanalpläne durchkreuzten, so endlich auch dem Zentrum. Alle meine Amtsvorgänger sind in die Lage versetzt worden, sich der Machtansprüche des Zentrums erwehren zu müssen. Nicht wenige der innerpolitischen Konflikte der letzten Jahrzehnte sind aus solcher Notwehr der Regierung hervorgegangen, der Konflikt von 1887 wie der von 1893, und endlich auch der Zusammenstoß von 1906.

Für eine Partei, die sich in kaum zu erschütternder Position befindet wie das Zentrum, ist die Versuchung, blanke Machtpolitik zu treiben, natürlich sehr groß. Sie ist doppelt verführerisch, wenn das Zentrum in der Lage ist, mit der Sozialdemokratie die Mehrheit zu bilden und mit ihrer Hilfe das Zustandekommen eines jeden beliebigen Gesetzes zu verhindern. Eine Mehrheit von Zentrum und Sozialdemokratie, die nationalen Forderungen Widerstand leistet, ist nicht nur ein Schade, sondern eine schwere Gefahr für unser nationales Leben. Vor 1906 hat sich das Zentrum wiederholt verleiten lassen, sich die grundsätzlich ablehnende Haltung der Sozialdemokratie gegenüber nationalen Forderungen zunutze zu machen, wenn es mit der Sozialdemokratie die Mehrheit gewinnen konnte und es seiner Machtpolitik angemessen fand, der Regierung gerade durch Ablehnung nationaler Forderungen unbequem zu werden. Ebenso ist vor dem reinigenden Gewitter von 1906 mehr als einmal der Fall eingetreten, daß das Zentrum für die Zustimmung zu nationalen Forderungen nur schwer oder gar nicht erfüllbare Bedingungen stellte im Bewußtsein, daß ohne seine Mithilfe die Bildung einer nationalen Mehrheit nicht möglich war. Seit dem Unterliegen des Kartells bei den Februarwahlen von 1890 bis zu den Blockwahlen von 1907, nach denen sich das Zentrum keiner Militär-, Marine- oder Kolonialforderung mehr widersetzte, hat die Regierung ununterbrochen unter dem Schatten des drohenden Zusammenschlusses des Zentrums und der Sozialdemokratie zu einer oppositionellen Mehrheit gestanden. Gewiß hat das Zentrum während der zwischen Kartell und Block liegenden 17 Jahre dankenswert mitgearbeitet an nationalen Aufgaben, so vor allem an den Flottengesetzen, so bei den Zolltarifgesetzen, so in hervorragender Weise bei der Fortführung der Sozialpolitik. Die Vorgänge auf dem Felde der Kolonialpolitik im Winter 1906 bewiesen aber doch, daß das Zentrum nach wie vor in der Ablehnung nationaler Forderungen mit Hilfe der Sozialdemokratie ein erlaubtes und willkommenes Mittel zur Durchführung seiner Machtpolitik sah.

Die Aufgabe von 1907.

Der Konflikt, den das Zentrum Seite an Seite mit der Sozialdemokratie, Polen und Elsässern heraufbeschwor,

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 1. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_1.pdf/92&oldid=- (Version vom 31.7.2018)