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den Preis von 1891 festhalten wollen, so würde es dazu statt 35 M. eines Zolls von 123 bezw. 128 M. per Tonne bedurft haben! Weiter ist zu beachten, daß, wie schon bemerkt, die Preise von 1891 Teurungspreise waren, deren Aufrechterhaltung untunlich erschien. Mitte der achtziger Jahre hatten die Preise zeitweilig nicht viel höher gestanden als 1894.

Immerhin muß zugegeben werden, daß die Lage der körnerbauenden Landwirtschaft in jenen Jahren in der Tat äußerst kritisch war. Nur das muß bestritten werden, daß die Ermäßigung des Zolles um 15 M. hierzu wesentlich beigetragen hat. Will man die Handelsverträge mit jener Kalamität in Verbindung bringen, so kann es nur in dem Sinne geschehen, daß die Bindung des Tarifs eine den Weltmarktpreisen folgende Erhöhung des Zolls – die, wie gezeigt, allerdings den Satz von 1887 mindestens hätte verdoppeln müssen, wenn ein voller Ausgleich hätte herbeigeführt werden sollen – verhinderte. Die Bedeutung der Caprivischen Politik lag, dies muß immer wieder mit Schärfe betont werden, keineswegs in der Höhe der Zollsätze, sondern in deren Bindung. Dies ergibt sich u. a. auch aus der Weiterentwicklung der Brotgetreidepreise während der Gültigkeitsdauer der Handelsverträge. Es kostete in Berlin

im Jahre   Weizen   Roggen
1894 136 M. 118 M.
1895 143 M. 120 M.
1896 156 M. 119 M.
1897 174 M. 130 M.
1898 186 M. 146 M.
1899 155 M. 146 M.
1900 152 M. 143 M.
1901 164 M. 141 M.
1902 163 M. 144 M.
1903 161 M. 132 M.
1904 174 M. 135 M.
1905 175 M. 152 M.

Für diese ganze Zeit hat derselbe Zoll bestanden, und trotzdem ergab sich eine sehr unterschiedliche Preisentwicklung, die eben in den Weltmarktverhältnissen begründet lag und teilweise Sätze erreichte, die zu Anfang der neunziger Jahre auch von den Gegnern der Caprivischen Politik als ausreichend erachtet wurden und die im Frühjahr 1898 sogar zu Erörterungen im Reichstag darüber führten, ob der Zoll nicht zeitweise herabgesetzt werden müsse. Hiergegen wandte sich aber besonders scharf das Zentrum: „Wir wollen unter der Herrschaft des 3½ M.-Zolles bei steigender Konjunktur den Landwirten den Vorteil von den hohen Preisen lassen, nachdem sie bei niedrigen Preisen den Nachteil gehabt haben.“ (Lieber.)

Im Grunde genommen ist deshalb die Situation der deutschen Landwirtschaft, soweit sie am Körnerbau interessiert war, während der Zeit der Caprivischen Handelsverträge so zu beurteilen, daß mit dem Inkrafttreten der Verträge zufällig ein internationaler Preissturz zusammenfiel, der zu einer unverkennbaren Notlage führte, die zeitweilig eine Erhöhung der Getreidezölle als dringend erwünscht erscheinen ließ, ohne daß diese infolge der Bindung des Tarifs möglich gewesen wäre. Von Mitte der 90er Jahre ab aber änderte sich das Preisniveau auf dem Weltmarkt und damit auch in Deutschland so sehr, daß von einer „Notlage“ nicht mehr die Rede sein konnte. Hierbei ist freilich zu beachten, daß um die Wende des 19. Jahrhunderts die schon in den 70er Jahren erkennbar gewordene Preissteigerung des landwirtschaftlich benutzten Bodens ganz ungewöhnlich starke Fortschritte machte und

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 690. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/253&oldid=- (Version vom 20.8.2021)