Seite:Deutschland unter Kaiser Wilhelm II Band 2.pdf/380

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.


Arbeiterversicherung und Sozialistengesetz. – Der neue Kurs.

Politisches Ziel Bismarcks.

Die deutsche Arbeiterversicherung im Geiste Bismarcks hatte in erster Linie den Zweck, die arbeitenden Klassen für die bestehende Staatsordnung wieder zu gewinnen. Es sollten „die bedenklichen Erscheinungen, welche den Erlaß des Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ notwendig gemacht hatten, „auch durch positive, auf die Verbesserung der Lage der Arbeiter abzielende Maßnahmen“ bekämpft werden (Begründung zum ersten Unfallversicherungsgesetz). Anstatt der materiellen Ziele: Hebung und Sicherung der Lage der arbeitenden Massen wurde der politische Zweck: die positive Bekämpfung der Sozialdemokratie in den Vordergrund gerückt. So erschien das ganze Versicherungswerk unter den Gesichtspunkt des Sozialistengesetzes gestellt – als „Zuckerbrot“ zur „Peitsche“ –, und es mußte so seine versöhnliche Wirkung vor Allem bei den Sozialdemokraten und ihren Gesinnungsverwandten vollständig verfehlen. Der Reichskanzler hat selbst später einmal im Reichstage am 26. Nov. 1884 bemerkt:

„Die Sozialdemokratie ist, so wie sie ist, doch immer ein erhebliches Zeichen, ein Menetekel für die besitzenden Klassen dafür, daß nicht alles so ist, wie es sein sollte, daß die Hand zum Bessern angelegt werden kann und insofern ist ja die Opposition ganz außerordentlich nützlich. Wenn es keine Sozialdemokraten gäbe und wenn nicht eine Menge Leute sich vor ihnen fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch noch nicht existieren und insofern ist die Furcht vor der Sozialdemokratie in bezug auf denjenigen, der sonst kein Herz für seine Mitbürger hat, ein ganz nützliches Element.“

Wenn dem Reichskanzler auch gewiß nicht „das gute Herz“ für seine Mitbürger abgesprochen werden soll, so war seine ganze Sozialpolitik doch allzusehr auf diesen Ton der Bekämpfung der Sozialdemokratie gestimmt.

In zweiter Linie anerkannte der Reichskanzler es allerdings auch als eine „Pflicht der Humanität und des Christentums, von welchen die staatlichen Einrichtungen durchdrungen sein sollen“, daß der Staat „sich in höherem Maße als bisher der hilfsbedürftigen Mitglieder annehme“ (Begründung zum ersten Unfallversicherungs-Entwurf), aber anstatt die beabsichtigten Maßnahmen unter die allgemeinen Gesichtspunkte der Staats- und Wirtschaftspolitik zu stellen, begründete er sie als eine „Weiterentwickelung der Idee, welche der staatlichen Armenpflege zugrunde liegt“, (l. c.) Er betonte es als eine Aufgabe staatserhaltender Politik, „in den besitzlosen Klassen der Bevölkerung, welche zugleich die zahlreichsten und am wenigsten unterrichteten sind, die Anschauung zu pflegen, daß der Staat nicht bloß eine notwendige, sondern auch eine wohltätige Einrichtung sei“. „Durch erkennbare direkte Vorteile, welche ihnen durch gesetzgeberische Maßregeln zuteil werden,“ sollten sie dahin geführt werden, „den Staat nicht als eine lediglich zum Schutze der besser situierten Klassen der Gesellschaft erfundene, sondern als eine auch ihren Bedürfnissen und Interessen dienende Institution aufzufassen.“

So stellte sich die ganze Arbeiterversicherung im Geiste Bismarcks nur als eine weitere gesetzliche Ausgestaltung der Armenpflege dar. Es sollte ein großzügig gedachtes

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 817. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/380&oldid=- (Version vom 20.8.2021)