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Vortrag auf dem Internationalen Hygienisch-demographischen Kongreß in Washington 1912 hervor:

„Das Volk, die Volkskraft ist das kostbarste Gut der Nation. Es ist nicht bloße Masse, nicht „quantité négligeable“, sondern organisches Nationalkapital, das in weitem Umfange den Mutterboden der Kultur und der wirtschaftlichen Produktivität darstellt. Dies gilt sowohl für die alten Kulturstaaten, wie für die Staaten der Neuen Welt mit starker Zuwanderung. Dies gilt noch mehr als früher in der Gegenwart, wo im Zeichen der fortschreitenden Industrialisierung und Verstadtlichung der Bevölkerung der Mensch selber immer mehr zur Produktionsquelle, zur Mehrwertsquelle wird, wo er infolgedessen immer höhere Einschätzung erfordert. Der Reichtum des einzelnen Landes bemißt sich daher in der Gegenwart ganz wesentlich nach der quantitativen Größe und auch nach der qualitativen Reife der Bevölkerung. Verwertung und Entwickelung unserer Volkskraft darf demgemäß nicht Raubbau sein, sie muß organisches Kapitalisieren sein. Die neuen Entwickelungswerte müssen als Zinsen und Zinseszinsen aus dem Volkskapital ohne Beeinträchtigung des innern Wertes des Volkskapitals herausgewirtschaftet werden. So erscheint es denn selbstverständlich, daß alle moderne weitblickende Staatspolitik nicht so sehr auf mehr Geldreserven als auf mehr Kraftreserven gerichtet ist. Sie erstrebt größte Reserven von körperlicher und geistiger Kraft, von physischer und sittlicher Gesundheit der Nation.“

Diese hohe Einschätzung der physischen Volkskraft ist um so mehr gegeben, als mit der steigenden industriellen Entwickelung die Volksvermehrung in Deutschland nicht bloß nicht gleichen Schritt hält, sondern in bedenklicher Weise abnimmt.

Trotz des steigenden Wohlstandes ist die Zahl der Eheschließungen von 8,2 auf je 1000 Einwohner in den Jahren 1891 bis 1900 auf 7,9 1912 zurückgegangen. Noch bedenklicher aber ist der Rückgang der Geburten: von 38,2 im Durchschnitt der Jahre 1881 bis 1890 auf 29,1 im Jahre 1912. In Preußen sank die Geburtsziffer von 36,7 im Jahre 1892 auf 29,7 im Jahre 1912. Das ist eine dringende Gefahr für unsere nationale Wehrkraft wie für unsere wirtschaftliche Weltstellung. So haben wir doppelt Grund, unsere Volkskräfte zu schonen und zu stärken und auf eine möglichst lange Erhaltung des Lebens hinzuwirken. Die so verwendeten Kosten sind, selbst rein geschäftlich betrachtet, nicht minder gewinnbringend, wie etwa die Auslagen für den Schutz und eine schonende Behandlung und rechtzeitige und sorgfältige Reparatur kostbarer Maschinen.

Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik.

So stehen Wirtschaftspolitik und Sozialpolitik in innigem gegenseitigen Verhältnisse. Die Opfer, welche der nationalen Produktion im Interesse der arbeitenden Klasse aufgelegt sind, haben sich als fruchtbare, reichlich sich verzinsende Anlage erwiesen. Nur eine wirtschaftlich und physisch vollkräftige Arbeiterschaft kann auch den weiteren Aufstieg unserer Industrie sichern. Das ist unser Stolz, das aber auch unsere Bürgschaft für die Zukunft, daß die erfreuliche Entwickelung unserer Industrie begleitet war von einer nicht minder erfreulichen wirtschaftlichen, physischen und geistigen Hebung des Arbeiterstandes, wie umgekehrt unsere Sozialpolitik sich stets der Grenzen bewußt geblieben ist,

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 854. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/417&oldid=- (Version vom 20.8.2021)