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Treue, alle die idealen Anlagen, die auch im deutschen Arbeiterstande lebendig sind und in ihrer Weise – nach den gegebenen Auffassungen und Strebungen, auch in den Verirrungen – unsere aufrichtige Bewunderung verdienen, für dauernd versagen? – Das kann nicht sein, trotz aller trüben Bilder, die sich heute noch bieten.

Wachsen der Sozialdemokratie.

Gewiß, die deutsche Sozialdemokratie ist stetig gewachsen – trotz aller Sozialpolitik. Mit Hohn hat man darauf hingewiesen, daß gerade nach den Februar-Erlassen die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen von 763 000 (1887) auf 1 427 000 (1890) emporschnellte. Vielfach ist diese Tatsache sogar als Erweis der Zweckmäßigkeit des Sozialistengesetzes geltend gemacht worden. Allein diese gewaltige Steigerung der sozialdemokratischen Stimmen bewies doch nur, daß das Sozialistengesetz wohl die äußere Betätigung gehemmt, aber nicht die inneren Überzeugungen geändert hatte. Umgekehrt, die Februar-Erlasse wurden von der Sozialdemokratie als die Anerkennung des „Unrechts“, wie es im Sozialistengesetz ausgeübt sei, hingestellt und so erst recht wahlagitatorisch ausgenützt, – der beste Beweis, wie die erziehliche Wirkung des Sozialistengesetzes versagt hatte. Nicht die Zahl der sozialdemokratischen Stimmen bestimmt den Grad ihrer Gefahr für unsere Staats- und Gesellschaftsordnung, sondern die innere Gesinnung und die Bereitwilligkeit zur revolutionären Tat. Solange die Massen noch an die Macht des Stimmzettels glauben und diesen Glauben freudig betätigen, ist die Gefahr der Revolution noch nicht akut. Es ist das Ventil, durch das die innere Unzufriedenheit zur Auswirkung kommt, und es wäre eine falsche Politik, die gewaltsame Explosion damit verhüten zu wollen, daß das Ventil verschlossen wird.

Die Sozialdemokratie ist eine Bewegung von weltgeschichtlicher Bedeutung, die sich nicht in einigen wohlgemeinten Maßnahmen der Sozialpolitik erschöpft. Sie stellt eine neue Weltanschauung dar, die zwar vor allem durch die sozialen Mißstände ihre umfassende Bedeutung gewonnen hat, die aber nicht durch Milderung dieser Mißstände nun ebenso schnell wieder beseitigt wird. Sie greift die tiefsten Fundamente der bestehenden Gesellschaftsordnung an. Sie hat die Massen mit dem Fanatismus einer neuen Religion erfüllt.

Die innere Versöhnung und Wiedergewinnung der so verhetzten Massen kann nur das Werk vieler Jahrzehnte allseitiger, systematischer pflichttreuer und opferwilliger Arbeit in Schule, Kirche, Gesellschaft und Staat sein, kann vor allem nur durch die vereinigten Bemühungen von sozialem Pflichtgefühl durchdrungener Arbeitgeber und der ruhigern, gerecht und vernünftig denkenden Arbeiter und ihrer Organisationen gesichert werden. Was in Jahrzehnten versäumt worden ist, kann nicht in Jahrfünften wieder gutgemacht werden. Umgekehrt erfordert es die Arbeit von Generationen, die Einbußen in unfern sittlichen Volkskräften wieder auszugleichen, unser Volk wieder mit dem freudigen Glauben und Vertrauen in den Bestand unserer Gesellschaftsordnung und den gerechten Sinn der dirigierenden Klassen zu erfüllen, das Gefühl der christlichen Solidarität, der Liebe zu Vaterland und Kirche neu zu beleben

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/422&oldid=- (Version vom 20.8.2021)