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habe. „Früher“, so meint er, „fanden Teuerungsjahre ihren Ausdruck in vermehrter Sterblichkeit und zahlreicheren Eigentumsdelikten, heute im Rückgang der Geburtenziffer.“ Dem ist entgegengehalten worden, daß der Rückgang der Geburten international ist, d. h. für alle Kulturvölker der europäischen Mitte und des europäischen Westens und auch für die Angelsachsen in Amerika und Australien gilt, der Hinweis auf den „Bülow-Tarif“ als den Hauptschuldigen also kaum das Richtige treffen dürfte. Richtig ist an dieser Erklärung jedoch, daß eine Verteuerung des Lebens ganz unabhängig von der Gestaltung der Einkommen aus psychologischen Gründen geeignet ist, manche der auf eine Herabsetzung der Geburtenziffer gehenden Tendenzen zu unterstützen. Ebenso ist sicher, daß eine solche Verteuerung des Lebens mit der Zeit des stärksten Geburtenrückgangs zusammengefallen ist. Die preußischen Verhältnisse veranschaulicht die folgende Tabelle:

Geburten Todesfälle Weizenmehl Kartoffeln Rindfleisch Schweinefleisch
auf 1000 Lebende Preis in Pfg. pro kg
1900/01 37,3 22,3 30 5 127 134
1910/11 30,8 17,5 37 9 161 156

Die Zahl der Todesfälle ist also in dieser Zeit der Verteuerung der Lebensführung nicht gestiegen, vielmehr zurückgegangen, eigentliches Elend hat die Teuerung nicht geschaffen, aber der Geburtenrückgang fällt mindestens zeitlich mit ihr zusammen, und auch eine gewisse ursächliche Verknüpfung ist zweifellos da.

Der bereits genannte Kieler Volkswirt Tönnies hat neben der Teuerung die Heiratsziffer zur Erklärung des Sinkens der Geburtenrate herangezogen. Indes ist in der Gestaltung der Heiratsziffer nichts Auffälliges zu verzeichnen. Die Jahre 1901 bis 1910 hatten mit genau 8 Eheschließungen auf 1000 Menschen eine Heiratsfrequenz, die größer als jene der Dekade 1881/90 und selbst die der Dekade 1851/60 war, die beide jährlich 7,8 aufwiesen. Die Heiratsziffer ist letzthin allerdings etwas zurückgegangen. Aber bei den Eheschließungen erfolgt noch heute ganz regelmäßig ein Auf und Ab in längeren Perioden, wie es irrigerweise von einigen Nationalökonomen auch für die Geburten angenommen wird. Seit Gründung des Reichs schwankte die Heiratsziffer, wenn wir von den ersten Jahren, die Ausnahmecharakter tragen (weil es die durch den Krieg gerissenen Lücken auszufüllen galt), absehen wollen, regelmäßig zwischen 8,5 und 7,5. Dieses Minimum wird auch in unseren Tagen nicht unterboten. Die Eheschließungsfrequenz der Jahre 1904/08 weist noch durchweg Durchschnittsziffern oder überdurchschnittliche Ziffern aus, und insgesamt war die Heiratsfrequenz unsrer Jahre als eine gute zu bezeichnen. Der Erklärung aus der Abnahme der Eheziffer steht auch entgegen, daß die Eheschließungsziffer für die 20–25 Jahre alten Frauen in letzter Zeit sogar gewachsen ist. Dieses Alter ist aber besonders fruchtbar, so daß die Gestaltung der Heiratsverhältnisse eher einer Steigerung, als einer Verminderung der Geburten günstig gewesen wäre.

Große Bedeutung mißt Tönnies weiter der Zunahme der Mischehen bei. Er denkt dabei nicht bloß an die konfessionellen Mischehen, sondern auch an die Ehen verschiedener Stammesangehöriger, die in den Großstädten zusammenströmen. Mit dieser

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 867. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/430&oldid=- (Version vom 9.3.2019)