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dieses Erfahrungsbegriffes im Zusammenhang mit dem biblischen Prinzip, einer stärkeren Betonung des Erkenntnistheoretischen und einer neuen Grenzregulierung zwischen einerseits der Theologie und dem Glauben, andererseits der Theologie und dem natürlichen Geistesleben und der Wissenschaft. Hier mußten Scheidewände teils gezogen, teils niedergerissen werden. Hier ist vor allem Ihmels zu nennen. An die Weiterbildung der Erlanger Theologie knüpft dann vor allem die moderne positive Theologie an, von der noch zu reden sein wird.

Abkehr von der dogmatischen Problemstellung.

Inzwischen hat sich nun seit Ritschl und Frank überhaupt eine entschiedene Abkehr von den dogmatischen Problemen vollzogen. Charakteristisch für den gegenwärtigen Theologen, seine Bildung und seine Stimmung ist nicht mehr wie vor fünfundzwanzig Jahren seine dogmatische Bewertung, sondern seine historische Auffassung des Christentums. Jener bereits geschilderte Säkularisierungsprozeß in der neuesten Theologie war ein Historisierungsprozeß. „Der Historismus in der Theologie“ – so könnte man die neuesten Entwicklungsphasen überschreiben. Nicht als ob jene ältere dogmatisch gerichtete Generation historisch unfruchtbar geblieben wäre. Im Gegenteil, sowohl die Ritschlsche wie die Erlanger Theologie hat bedeutende historische Arbeiten geliefert, besonders zur Lutherforschung und zur Dogmengeschichte überhaupt. Aber das dogmatische Interesse überwog dabei das rein historische. Das wird ganz deutlich bei Ritschl und Frank selbst, aber auch bei vielen ihrer Schüler. Gewiß eine historische Kritik hat es seit langem gegeben, aber erst in dem letzten Jahrzehnt hat sie sich der gesamten Theologie bemächtigt und ihren dogmatischen, ja geradezu kirchlichen Charakter nahezu neutralisiert. Diese historische Theologie empfand sich selbst vielfach als geradezu unkirchlich. Die Losung einer „unkirchlichen“, zum wenigsten „außerkirchlichen“ Theologie wurde erhoben. Instruktiv für diese Bewegung zur weiteren Historisierung und Säkularisierung der Theologie ist das 1897 erschienene Buch von Bernoulli über „die wissenschaftliche“ und „die kirchliche Methode in der Theologie“, in welchem er im Anschluß an Lagarde, Overbeck, Wellhausen und Duhm an die Stelle der Theologie eine „historische Religionswissenschaft“ setzen will, wobei dann auch die systematische Theologie eine „historische Disziplin“ werden soll. Hier wird also von seiten der wissenschaftlichen Theologie das Verhältnis zur Kirche abgebrochen. Man will nicht gerade antikirchlich sein, aber akirchlich. Auch da, wo der Historismus nicht so weit ging, drängt er die Dogmatik in den Hintergrund. In dieser Beziehung ist Harnacks „Wesen des Christentums“ lehrreich. Hier ist in der Tat der Versuch gemacht, das Wesen des Christentums auf historischem Wege zu bestimmen.

Programm der Religionsgeschichtlichen Schule.

In der Tat hat die moderne „Religionsgeschichtliche Schule“ mit allen kirchlichen Voraussetzungen aufgeräumt. Ihr Programm möglichste ist Umwandlung der Theologie in Religionswissenschaft. Der gewaltige Fortschritt gegenüber der älteren „historischen Kritik“ des Alten und Neuen Testamentes

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 997. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/560&oldid=- (Version vom 20.8.2021)