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fördern, muß sich bewußt bleiben, daß mit jeder Stelle, aus der der Mann verdrängt wird, den sie bisher ernährt hat, sich auch die Möglichkeit der Familiengründung und damit die Heiratsaussicht der Frau verringert. Und dennoch dürfen der Frau die Gelegenheiten zur Berufsausbildung nicht vorenthalten bleiben, die dem Manne geboten werden. Man beseitigt den Wettbewerb zwischen Mann und Frau nicht dadurch, daß man die Bedingungen des einen Teils in parteiischer Weise verschlechtert. Für den Mann ist überdies der Wettbewerb der wenig leistenden und darum schlecht gelohnten Frau verderblicher als derjenige der gut vorgebildeten und deshalb zu höheren Lohnansprüchen berechtigten Frau.

Pflichtfortbildungsschulen.

Es ist deshalb zu begrüßen, daß wenigstens am Schluß der Periode von 1888–1913 die Errichtung von Mädchen-Pflichtfortbildungsschulen in Fluß kommt. Diese neue Entwickelung hat in ihren ersten Anfängen bereits eine lebhaft erörterte Streitfrage gezeitigt. Ein großer Verband von Handlungsgehilfen, der mit Besorgnis auf das zunehmende Eindringen weiblicher Arbeitskräfte in den Handel blickt, fordert, daß in der Mädchen-Fortbildungsschule ausschließlich hauswirtschaftlicher Unterricht erteilt werde, um die jungen Mädchen auf den natürlichen Beruf des Weibes als Frau und Mutter vorzubereiten. Die radikalen Organisationen der Frauen dagegen verlangen, daß der Fortbildungsunterricht für die jungen Mädchen genau so gestaltet werde wie für die jungen Männer, mit denen sie in Wettbewerb zu treten haben, daß er also unter Ausschluß des hauswirtschaftlichen Unterrichts rein fachlich sei. Diesen Standpunkt haben sich auch mehrere Handelskammern und andere Vertreter des kaufmännischen Unternehmertums zu eigen gemacht. Bei der Entscheidung dieser Streitfrage muß die Gesamtheit der Lebensverhältnisse der gewerblich tätigen Mädchen in Betracht gezogen werden. Nun lehrt die Statistik, daß von den gewerblich tätigen Mädchen der größte Teil – erfreulicherweise – heiratet. Das Mädchen steht also dem gewerblichen Beruf von vornherein anders gegenüber als der Mann. Für diesen ist er Lebensinhalt, für das Mädchen eine Übergangsbeschäftigung, auch wenn häufig genug an die Frau nach der Verheiratung die Gelegenheit oder sogar die Notwendigkeit herantreten wird, im Geschäfte des Mannes oder als Witwe gewerblich tätig zu sein. Fehlt den gewerblich tätigen Mädchen die Förderung, die der männlichen Jugend die Fortbildungsschule bietet, so wächst die Gefahr, daß das Mädchen bei minderwertigen Leistungen als Lohndrückerin wirkt. Wird die Gelegenheit, die die Fortbildungsschule bietet, nicht benutzt, bei der weiblichen Jugend die hauswirtschaftlichen Kenntnisse und Fertigkeiten zu pflegen, so ist vorauszusehen, daß zahllose Mädchen, wenn sie sich verheiraten, nicht imstande sind, eine ordentliche Wirtschaft zu führen, dem Manne ein nahrhaftes Essen zu bereiten, das Einkommen der Familie verständig einzuteilen, bei Kinder- und Krankenpflege sachgemäß zu verfahren. Unglückliche Ehen und zerstörtes Familienleben mit allen ihren für das Volksganze so traurigen Wirkungen sind die Folge. Soll die Fortbildungsschule einmal eine Berufsschule sein, so bleibt nichts anderes übrig, als daß sie dem doppelten Beruf der gewerblich tätigen Frau als gewerbliche

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 2. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_2.pdf/705&oldid=- (Version vom 20.8.2021)