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so hält die Wirklichkeit nicht aus. Was im Leben wahr, groß und göttlich ist, ist es durch die Idee. In dieser Betonung der Idee als der Bedingung aller Besserung und Vervollkommnung liegt der Primat des Absoluten vor dem Relativen und die Bedeutung der absoluten Philosophie ausgedrückt. Der Höhe des Ziels entspricht die Höhe der Leistung, der vollen Hingabe an das absolute Ziel entspringt die Fähigkeit, seinen Ansprüchen gerecht zu werden.

So mag auch das lebendige Interesse der Gegenwart an philosophischen Problemen und Betrachtungen in den geschilderten Ansätzen zur absoluten Philosophie, in der Richtung auf letzte Tatsachen, Werte, Gesetze und Realitäten seine Befriedigung, seine Erhebung und seine fruchtbare Ergießung über alle Gefilde des Lebens und der Wirksamkeit finden! Es ist heute freilich einem einzelnen kaum mehr vergönnt, alle Formen zu einer grandiosen Einheit zu verbinden. Wir sind zu vorsichtig und gründlich, zu spezialistisch und von der gewaltigen Entwickelung der Einzelwissenschaften zu sehr bedrängt und abhängig, als daß im gleichen Maße Phänomenologie und Wertlehre, positivistischer Kritizismus und Metaphysik von einem einzigen ausgestaltet und zu einer absoluten Philosophie vereinigt werden könnten. Aber keine Zeit hat zugleich das Prinzip der Arbeitsgemeinschaft, der Bündnisse und Verträge, die Selbständigkeit der Verbände gegenüber ihren Gliedern und der alle Schranken der Individualität überfliegenden Kulturbewegung so konkret ausgebildet und sich so praktisch angeeignet, wie die unsrige. Vor 100 Jahren wurde ein Rivale Hegels um die Palme der absoluten Philosophie, K. Ch. F. Krause, kriminalistisch verfolgt, weil er die höchst gefährliche Stiftung eines die Lebewesen aller Himmelskörper umfassenden Menschheitsbundes unternommen hatte. Wir brauchen nur an dieses tragikomische Ereignis zu denken, um uns der Freiheit unseres Koalitionsrechtes mit freudigem Stolze bewußt zu werden. So dürfen wir hoffen, daß sich die auseinanderstrebenden Tendenzen unseres philosophischen Zeitalters aufeinander beziehen und miteinander zusammenschließen lassen werden.

Es ist der Fluch der Vereinzelung, daß sie zur Einseitigkeit und Exklusivität führt und über dem Ich denke und dem αντός εφα das Denken und Reden der anderen überhört und abweist. Nach Anlage, Entwickelung und Bestimmung erreichen wir in dieser besten der möglichen Welten nicht als Einzelwesen die Vollendung, wie selbst der Traum des Übermenschentums noch zu erhoffen wagte, sondern in der Gattung, und so repräsentieren wir nur in der vielgliedrigen Körperschaft der Suchenden und Erkennenden und nicht in einem einzigen, noch so bedeutsamen Teile derselben die Universalität der geistigen Kultur. Die absolute Philosophie, der jetzt wieder Herz und Sinn sich öffnen, ist nicht schlechthin bei einem Philosophen, in einem Buche oder an einer Universität zu finden, sondern das Ergebnis mannigfacher Arbeit vieler Orte und Geister. Sie ist das große stille Leuchten, das zahlreiche und weit verstreute Flammen ausstrahlen. Wenn die künstlichen Schirme, durch die sich diese gegeneinander abschließen, fallen, wenn es nicht mehr darauf ankommen wird, was jede von ihnen zur Erleuchtung beiträgt, dann erst wird voller Tag werden und das Zentralfeuer der Philosophie, von allen Brennstoffen des Wissens gespeist, seine Helligkeit und Wärme nach allen Richtungen spenden.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/35&oldid=- (Version vom 11.5.2019)