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Toten reiten schnell! Überraschend früh (1891) war schon der erste Ruf erschollen: „Los vom Naturalismus!“ Immer eindringlicher setzte selbst in der „Gesellschaft“ die Kritik ein. Freilich spürten überhaupt nur wenige unter den Gebildeten etwas von den heißen Literaturkämpfen, noch dazu, da die „Richtungen“ sich mit Autogeschwindigkeit ablösten.

Die 90er Jahre.

So wollte man bald sich nicht mehr mit einem engen Ausschnitt aus der Außenwelt begnügen, sondern begann wieder in sich selbst hineinzuhorchen und die Poesie zum Ausdruck des Innenlebens, des Zusammenrinnens von Seele und Welt zu erheben; man wollte fühlen, nicht bloß sehen und abschreiben, man wollte lieben, nicht hassen oder bloß logisch und mathematisch betrachten und messen, man wollte ein Leben in den Dingen suchen, das man nachleben könne, das Geheimnis, das in ihrem Grunde webt, ergründen. So ward alles Sinnliche zum Sinnbilde ewiger Beziehungen. –

Symbolismus und Neuromantik.

Ein Extrem löste das andere ab; Franzosen (Verlaine) und Belgier (Maeterlinck) und Italiener (d’Annunzio) wurden Führer in die Zauber- und Irrgärten dieser Nervenkunst. Die Maske des Abnormen, Müden, von Krankheitsstoff Belasteten galt als vornehm; war die Milieukunst in die Breite gegangen, so suchte man nunmehr in die Tiefe zu dringen; an Stelle des Demokraten trat der Aristokrat der Lebensführung. Man suchte wieder Pathos und Anmut und Würde, schwelgte in Farben und Tönen[1] und Träumen und Ekstasen, in Naturtrunken- und versunkenheit.

Doch dies tiefe Natur- und Seelengefühl und das Verlangen, davon Kunde zu geben, schärfte zum mindesten das Werkzeug des Geistes, die Sprache, und verfeinerte die Biegsamkeit der Ausdrucksmittel für das Geschaute und Erlauschte.

Das „souveräne Individuum“.

Und da ging ein Stern über der Jugend seiner Zeit auf, leuchtend und tröstend, verführend und betörend, die russischen und nordischen Revolutionäre in Schatten stellend: Friedrich Nietzsche. Das souveräne Individuum, der „Übermensch“ ward verkündigt. In den nur zu gut bereiteten Boden warf Nietzsche den Samen seiner Umsturzideen, und die Seelen brannten in der Glut seiner Pamphlets wider Christentum und Moral. Was Stirner, Schopenhauer, Hartmann, Nordau gepredigt hatten, das ward nun durch Nietzsche vollendet und gekrönt. Die mechanische Evolution bietet die Grundlage der Welterklärung; alles Geistige ist nur Naturmechanismus, Moral eine Erfindung blöder Geister oder ein Gewohnheitsrecht, freier Wille eine Selbsttäuschung; freie Liebe muß die Schranken der Gesellschaft durchbrechen; Pflicht ist Plage, Vaterlandsliebe ein Wahn, die Welt eine große Lüge; wer die Gewalt hat, ist Herr. Was in der Kunst der Impressionismus, in der Wirtschaftspolitik der Sozialismus, das ward auf sittlichem Gebiet der Immoralismus. „Hinter der blutfarbenen Internationalen taucht ein schwarzer Schemen auf, ihr Kind zugleich und ihr Henker – sein Richtschwert aber heißt: das souveräne Individuum.“


  1. Druckfehlerberichtigung im 3. Band: lies „Farben und Tönen“ statt „Tränen“
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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1540. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/411&oldid=- (Version vom 4.7.2021)