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in denen er naturgemäß den Standpunkt beibehält, auf dem wir ihn in seinen früheren Werken gesehen haben. Neben ihm ist hauptsächlich F. E. Koch als Vertreter des modernen Oratoriums zu nennen. In seinen „Tageszeiten“, wo er mit den Ereignissen eines Arbeitstages Bilder aus dem Leben Christi sinnvoll verwoben hat, zeigt er sich als Tonsetzer von eigenem Charakter, der, oft herbe, spröde in seiner Sprache, uns durch den männlichen Ernst seines Ausdrucks zu ergreifen weiß. Auf geistlichem Gebiet hat sich der verstorbene H. v. Herzogenberg in seinen Kirchenoratorien „Die Geburt Christi“ und „Die Passion“, sowie durch sein „Requiem“ bedeutsam hervorgetan und hat sich O. Taubmann durch seine „Deutsche Messe“ als Tonsetzer von sehr bedeutendem Können und hohem Sinn erwiesen. Auch Felix Draeseke, dessen Christus-Trilogie durch die Größe der Anlage imponiert, ist mit Ehren zu nennen.

Sehen wir nun das heutige musikalische Schaffen im Durchschnitt an, besonders das Schaffen derjenigen Komponisten, die von der „öffentlichen Meinung“ als die bedeutendsten bezeichnet werden, so können wir etwa folgendes beobachten: die Kompositionstechnik, die Orchesterbehandlung, die ganze Artistik haben eine schwindelnde Höhe erreicht, was jedoch durch die Darstellungsmittel ausgedrückt wird, ist meistens wenig bedeutend, es ist alles, was man will: witzig, geistreich, oder auch ganz verschwommen, bloß Stimmung und Farbe, nur nicht kraftvolle, groß gedachte, groß erfundene Musik. Es berührt den Verstand, interessiert vielleicht ungemein, aber es hat nicht die herzrührende Macht, die wirklich seelisch bewegende Gewalt, die das eigenste der Tonkunst ausmacht. Auch Richard Strauß höre ich wohl mit gespannter Aufmerksamkeit und oft mit vielem Vergnügen, aber ich fühle dabei nicht jenes heiße Entzücken, das mir Schubert oder Beethoven erregen.

Über diese Verhältnisse herrscht unter den wirklich Urteilsfähigen im Publikum wie bei den Künstlern nur eine Meinung; alle sind sich aber auch klar darüber, daß die Kunstmusik nur dann ihren Einfluß auf das ganze Volk ausüben kann, wenn sie von edler Einfachheit ist, nicht mit Künstelei belastet, und wenn sie ihr Hauptgewicht nicht auf den Ausbau einer überfeinerten Harmonik und auf das Ersinnen neuer Orchestereffekte, sondern auf die Erfindung charakteristischer, empfundener Melodie in künstlerischer Fassung legt. Das Volkslied, das durch natürliche Auslese übriggebliebene Beste aus dem Melodieschatz vieler Jahrhunderte kann wie schon öfter, so auch jetzt der Quell werden, der unserer Kunstmusik wieder frische Säfte zuführt, aus seinem Studium kann die Erschlaffte neue Kraft gewinnen und den Erdgeruch der Heimat.

Das Volkslied.

Das hat auch der Kaiser erkannt, denn er hat mit kräftigen Worten auf den Schatz hingewiesen, den die deutsche Nation in ihren Volksliedern besitzt, und er hat selbst angeordnet, daß eine Sammlung der schönsten alten und neueren Volkslieder herausgegeben werde. Unter der Leitung des greisen Rochus von Liliencron, der ebenso bedeutend als Gelehrter und Organisator war, wie verehrungswürdig als Mensch, hat eine stattliche Anzahl von Musikhistorikern und praktischen Musikern das Werk begonnen und vollendet und jetzt können durch den Mund der Männerchöre die herrlichen alten Weisen in die Welt dringen.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1619. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/490&oldid=- (Version vom 20.8.2021)