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hatten vor 25 Jahren ihre Kinderschuhe bereits ausgetreten, aber erst jetzt sind sie innerlich gefestigt die Hauptstützen der altorientalischen Geschichtsforschung geworden. Auf beiden Sprachgebieten – zuerst im Ägyptischen – werden die lexikalischen Arbeiten von Individuen jetzt durch große Kollektivsammlungen ersetzt, und auch die grammatische Forschung hat feste Formen angenommen, im Ägyptischen besonders für die Geschichte des Verbums. In das Chaos der demotischen Texte brachte ein deutscher Forscher endlich Licht. Auch bei der Arbeit mit dem Spaten haben deutsche Gelehrte, vom Staat und Privaten gefördert, im Wettkampf der Kulturvölker mit in erster Linie gestanden. Das ehrwürdige Babylon erstand aus dem Schutte von Jahrtausenden, in Assyrien, in Ägypten, in Syrien wurde gegraben. Überall war das Ziel nicht wie früher ein eilfertiges Erhaschen prunkender Museumsstücke, sondern das Kulturganze jener untergegangenen Welten, wenn man auch die besten und kostspieligsten Resultate nicht in den heimischen Museen ausstellen konnte. So wurde auch eine archäologisch-kunstgeschichtliche Würdigung erstmalig möglich. Aber auch die Funde selber, namentlich die Schriftdenkmäler, erweiterten unsere Kenntnisse vom alten Orient über alles Hoffen und Erwarten. Von London aus wurde die gewaltige Keilschriftbibliothek Assurbanipals allmählich erschlossen. Ein Deutscher bringt die erste Ordnung in die wüste Masse von 22 000 Tontafeln. Das dieser Bibliothek entstammende assyrische Urbild der biblischen Sintfluterzählung erregt die Gemüter. Im Jahr des Regierungsantrittes unseres Kaisers werden in Ägypten die Tell-el-Amarnatafeln gefunden, eine diplomatische Korrespondenz in assyrischer Sprache und Schrift aus dem 15. Jahrhundert v. Chr., die mehr als alles bisher Entdeckte den weltweiten Einfluß der babylonisch-assyrischen Zivilisation erkennen ließ und dem schemenhaften Bild jener Zeit menschliche, ja allzu menschliche Züge verlieh. Deutsche Gelehrte haben diese Urkunden erstmalig erschlossen. Berliner Ausgrabungen in Sendschirli führen uns in die eigentümliche Kultur der assyrischen Vasallen in Nordsyrien ein und schenken uns altaramäische Inschriften von einzigartiger Bedeutung. Deutscher Spürsinn entdeckte erst vor wenig Jahren in den Schutthügeln von Boghaskjöi die alte Hauptstadt des Hethiterreiches. Ein in ägyptischen Hieroglyphen uns bekannter Staatsvertrag erschien nun plötzlich auch in Keilschriftversion, grundlegende staatsrechtliche Verhältnisse des zweiten Jahrtausends wurden von zwei Seiten aus beleuchtet. Die Hammurabistele wurde gefunden und erschloß Zusammenhänge, die in Deutschland Gelehrte und auch das große Publikum beschäftigten. Deutsche waren schließlich auch bei der Ausgrabung und Entzifferung der einzigartigen aramäischen Papyri von Elephantine in erster Linie beteiligt. Zur Zeit der Herrschaft der Achämeniden über das Niltal lebt an der Südgrenze Ägyptens eine jüdische Gemeinde mit einem eigenen Tempel. Ihr Tempel wird zerstört, ihre Anträge auf Wiederherstellung und andere Urkunden sind uns erhalten. Tiefe Blicke tun wir damit in die israelitische Religionsgeschichte, schwerumfochtene Resultate der Bibelkritik finden überraschende Bestätigung, die Verwaltung des Achämenidenstaates wird lebendig, die historischen Urkunden der biblischen Bücher Esra-Nehemia treten aus ihrer Isolierung und werden glaubhaft, von der Fülle der sprachlichen Enthüllungen ganz zu schweigen. Und aus den gleichen Quellen ersteht uns eine aramäische Version des Achikar romanes, wahrlich auch das eine Entdeckung von unabsehbarer literaturgeschichtlicher Bedeutung.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1185. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/56&oldid=- (Version vom 15.9.2022)