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der Funktionen von nullter Ordnung laufen, welche letzteren eine besondere Beachtung verdienen.“

So sind denn auch die letzten fünfundzwanzig Jahre für die Mathematik fruchtbar geworden durch die Verfolgung früher angedeuteter Wege, fruchtbar in der Entstehung neuer Ideen. Es soll der Versuch gemacht werden, dies an einigen Beispielen zu zeigen.

Zahlbegriff. Transfinite Zahlen.

Der einfachste Begriff der Arithmetik scheint der der Zahl zu sein, und doch ist er einer der schwierigsten, über den viel gestritten ist, der von mathematischer und philosophischer Seite wieder und wieder untersucht und zergliedert ist. Schon die Frage, ob die Kardinalzahl oder die Ordinalzahl den Ausgang für den Zahlbegriff liefere, ist lebhaft umstritten und so wenig geklärt, daß Picard in seinem Berichte über die Entwicklung der mathematischen Analysis und ihre Beziehungen zu einigen anderen Wissenschaften (Saint-Louis 1904) darauf verzichtet, hierüber etwas Endgültiges aussagen zu wollen. Bei den Erweiterungen des Zahlbegriffes zum Begriffe der inkommensurablen und der komplexen Zahlen sind so große Meinungsverschiedenheiten möglich, daß die beiden großen Mathematiker der Berliner Akademie Weierstraß und Kronecker darüber in einen nicht zu versöhnenden Gegensatz gerieten. Und dabei wurde zu derselben Zeit in der Auffassung des Zahlbegriffes von einem ihrer Schüler, Georg Cantor, der größte Fortschritt herbeigeführt, der nach Übereinstimmung aller jetzt lebenden Mathematiker seit langem gemacht ist. Die bezüglichen Arbeiten über transfinite Zahlen und Mengenlehre wurden schon in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts veröffentlicht, von Weierstraß mit Beifall aufgenommen, von Kronecker mit Unbehagen abgelehnt, und sie übten erst in der zur Besprechung stehenden Periode ihren Einfluß aus. Hilbert sagt hierbei in seiner Gedächtnisrede auf Minkowski:Minkowski verehrte in Cantor den originellsten zeitgenössischen Mathematiker zu einer Zeit, als in damals maßgebenden mathematischen Kreisen der Name Cantor geradezu verpönt war und man in Cantors transfiniten Zahlen lediglich schädliche Hirngespinste erblickte. Minkowski äußerte wohl, daß Cantors Name noch genannt werden würde, wenn man die heute – weil sie modisch sind – im Vordergrunde stehenden Mathematiker längst vergessen hat. Der Umstand, daß ein Mann wie Minkowski, der das exakte Schließen in der Mathematik gewissermaßen verkörperte, und dessen Sinn für echte Zahlentheorie über allem Zweifel war, so urteilte, ist der Verbreitung der Cantorschen Theorie, dieser ursprünglichen Schöpfung genialer Intuition und spezifischen mathematischen Denkens, wie sie mit Recht kürzlich ein jüngerer Mathematiker genannt hat, sehr zustatten gekommen.“

Die Mengenlehre als Grundlage der Analysis hat erst in den letzten Jahrzehnten allgemeine Anerkennung gefunden. An diesem Beispiele sehen wir, daß in der Wissenschaft ein fruchtbarer Gedanke gleich einem Samenkorn Zeit braucht, um Wurzel zu fassen und Blüten zu treiben, bis endlich reiche Früchte den Lohn für die zur Entwicklung aufgewandte Mühe lohnen.

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Diverse: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. – Band 3. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1914, Seite 1223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Deutschland_unter_Kaiser_Wilhelm_II_Band_3.pdf/94&oldid=- (Version vom 20.8.2021)