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verschiedene: Die Gartenlaube (1856)

ist. Wir fußwanderten durch Wälder und Felder, durch Schaf- und Kuhheerden, Dörfer und Städte und an Personen vorbei, die alle so aussahen, als ob sie Müller hießen, bis wir in das niedliche Großherzogthum Sachsen-Weimar kamen, wo wir in einer niedlichen Landschenke am Saume eines duftigen Waldes mit Wiesen, von denen der würzigste frische Heugeruch hervorquoll, festen Fuß faßten, um einige Verwandte Müller’s in der Nähe, die alle ohne Ausnahme wieder Müller hießen, zu besuchen und uns von unseren Wanderungen zu erholen.

„Müller las und rauchte bis spät in die Nacht und stand spät auf, ich aber, damals jung und blühend, voller Kraft und Hoffnungen, stand nicht selten mit der Sonne auf und streifte durch das thaubeperlte Gras, kletterte auf Hügel, suchte Vogelnester auf und guckte hinein – natürlich ohne ihnen das Geringste zu Leide zu thun, las Stellen aus Thomson’s „Frühling“ oder auch im Shakespeare, trank irgendwo auf einem Dorfe Milch und amüsirte mich über die Kinder mit verbrannten Gesichtern und hellblonden Haaren, die Viertelstunden lang wie angewachsen standen und mich mit aller Macht anstarrten, bis ich sie anredete und sie davonliefen. So bekam ich meinen Mentor und Hauslehrer Müller in der Regel erst Nachmittags beim Essen zu sehen. Gegen Abend machten wir wieder Ausflüge und entdeckten manche verborgene Schönheiten des Waldes. Eines Morgens war ich früher wie gewöhnlich aufgestanden, um eine Lieblingsstelle in ziemlicher Entfernung, die wir ein paar[WS 1] Tage vorher aufgefunden, wieder zu suchen. Müller sollte mir zum Mittag nachkommen. Es war ein breiter Wildhügel, an welchem ein lustiges Flüßchen mit einem herrlichen Wasserfall herunter sprang und mit seinem klaren Geschwätz allein die Stille unterbrach, insofern man wenigstens der Gewohnheit wegen die Musik der Vögel nicht rechnet und glaubt, sie gehöre im Juni just zu der Stille des Waldes. Am Fuße des Hügels breitete sich zwischen Bäumen ein halbkreisförmiger Wiesenteppich aus. Das Ganze sah wie ein von der Natur eingerichtetes Amphitheater, durch welches das silberne Flüßchen, noch aufgeregt von seinem Falle, mit unermüdlicher Munterkeit zu den Bäumen hinaufplauderte. Hier wollt’ ich Shakespeare’s Sommernachtstraum lesen, um mir seinen „Puck“ und sonstige sonderbare Geister lebendig zu machen und einsam zu genießen, wie ein – Engländer. Auch war ich damals ein Stück von Geolog, und etwas Botaniker dazu, so daß ich mich leicht durch Blumen oder Quarzstückchen verleiten ließ, Steine zu klopfen oder Staubfäden zu zählen. So hatte ich mich auch diesen Morgen aufhalten lassen, weshalb es bald Mittag war, als ich durch den Wald das grüne Theater im freudigsten Sonnenschein aufleuchten sah.

„Aber ich machte gar große Augen, als ich sah, daß der Sommernachtstraum, den ich lesen wollte, hier eben von lebendigen Personen aufgeführt zu werden schien. Achtzehn oder zwanzig Damen und Herren und etwa ein halb Dutzend in Grau und Silber gekleidete Diener plauderten und sprangen auf dem Wiesenteppich herum. Die Herren trugen eine Art von Jagdkostüm, und die Damen sahen in ihren leichten Sommerkleidern mit ihren schlanken elastischen Gestalten, freudestrahlenden Augen und geröthet von der duftigen Junisonne, feenhaft schön aus.“

„Früher hast Du gesagt, daß eine von den Damen sehr korpulent gewesen,“ bemerkte hier eine der Damen.

„Gut, mein Kind, mag sein. Aber sie waren sehr schön, denn ich war noch nicht zwanzig Jahre alt und stand noch in der Ferne. Uebrigens braucht Ihr nicht zu fürchten, daß ich mir jetzt noch eine Frau und Euch eine Großmutter aus Deutschland, holen werde. Die Dienerschaft beschäftigte sich,“ fuhr der alte Herr fort, „eben damit, bemalte Holzbretter zu einem Theater und Kissen und Umschlagetücher zu Sitzen vor demselben zurechtzumachen, so daß ich alle Vorbereitungen zu meinem Sommernachtstraume im hellsten Sonnenscheine vor mir zu sehen glaubte. Aber etwas mußte schief gegangen sein, denn sie hatten sich inzwischen alle um einen jungen Herrn von majestätischer Größe und noblem Aeußern versammelt und führten eine lebhafte, ängstliche Unterhaltung, welcher der Majestätische keine bessere Wendung geben zu können schien. Auf einmal wandte die ganze Gesellschaft ihre Blicke mit der größten Ueberraschung auf mich, der ich weißhosig und verlegen am Rande der umgebenden Bäume stand, zu meinem Leidwesen noch obendrein grell von der Sonne beschienen. Ich hatte in Verwunderung verloren dagestanden und konnte jetzt am Wenigsten davonlaufen, um so weniger, als die ganze Gesellschaft in ein freudiges Gelächter ausbrach, mit schönen Händen mir Beifall klatschte und ehe ich mich dessen versah, mich in ihre Mitte genommen hatte, um mich mit Fragen und Bitten zu überschütten, ohne daß ich ihnen erst ceremoniell mich vorgestellt hatte.“

„Besitzen Sie Darstellungstalent?“

„Kennen Sie „die Bürgermeister?“

„Wollen Sie den Hermann spielen?“

„Ach ja, bitte mein Herr, spielen Sie den Hermann?“

„Lesen Sie ihn, wenn Sie die Rolle nicht kennen, bitte!“

„Sie sind uns vom Himmel gesandt, Sie dürfen höhern Weisungen sich nicht widersetzen.“

„Auf irgend eine Weise werden Sie den Hermann übernehmen, wenn Sie uns auf das Höchste verbinden wollen.“

„Bitte, kommen Sie, versuchen Sie’s!“

„In der glühendsten Verlegenheit starrte ich von einem schönen Gesicht zum andern, ohne ein Wort zu finden, das ich hätte sagen können. Zum Theater übergehen, Bürgermeister, Hermann, vom Himmel gesandt, ohne Weiteres als solcher Gesandter in Funktion treten, mich wohl gar in eine oder mehrere Damen verlieben –“

„Aber Großvater, das hast Du früher nicht gesagt in Deiner Erzählung.“

„Schon wieder ein Fragezeichen, ob sich, nicht Jemand in Dich verlieben will, Lousi, he? – Kurz, ich wäre wahrscheinlich stumm geblieben, wäre nicht der Majestätische zu meiner Rettung herbeigekommen.“

„Das ist ein seltsamer Empfang, mein Herr, nicht wahr?“ sagte er. „Erlauben Sie, Ihnen unsere Situation zu erklären. Wir sind eine Gesellschaft herumziehender Schauspieler und spielen Komödie, Tragödie, Burleske, Drama in Deutsch, Französisch, Italienisch mit der größten Unparteilichkeit. Heute wollten wir hier „die Bürgermeister“ einstudiren, haben aber unglücklicher Weise für unsere Hauptrolle plötzlich eine Vacanz, da der betreffende Schauspieler (hier zeigte er auf einen Herrn, der im Schatten eines Baumes auf Kissen lag) sich auf unserer Wanderung hierher den Fuß verrenkt hat. Wir haben keinen andern, der ihn ersetzen könnte. Wenn Sie daher den Hermann für ihn übernehmen wollten, würden wir Ihnen alle auf das Herzlichste dankbar sein.“

„Ja gewiß, mein Herr,“ fielen hier mehrere klangvolle, süße Stimmen aus schönen Gesichtern ein.

„Es lag so etwas Nobles und Gewinnendes in der Art des majestätischen Herrn, obwohl ich ihn jetzt blos für den Direktor einer herumziehenden Bande hielt, so etwas Reizendes in der ganzen Situation, so etwas Unwiderstehliches in den schönen Augen um mich herum, daß ich ohne Weiteres beschloß, mich in die Gefahr zu stürzen. Zufällig hatte ich eine entfernte Ahnung von den „Bürgermeistern,“ da ich einer Aufführung derselben mit Müller in Frankfurt beigewohnt, so daß ich mich nicht für so unfähig hielt, als ich im ersten Augenblicke fürchtete. So wurde ich nach wenig Minuten auf die extemporirte Bretterwelt geführt und hinter den Coulissen mit den übrigen Mitwirkenden aufgestellt. Fest hielt ich mein Buch in der Hand und las nach, bis mein erstes Stichwort kam. Kühn und entschlossen trat ich heraus, die Augen fest auf mein Buch gerichtet und scharf Achtung gebend, daß ich auch kein deutsches Wort englisch ausspräche, und so las ich und schritt ich und gestikulirte ich mit der rechten Hand dazu, sogar manchmal mit der linken, obgleich diese als „Buchhalter“ sich im Ganzen eines gesetzten Betragens vor meinen Augen befleißigte.

„Kurz die Sache machte sich Scene für Scene, Akt für Akt zu meiner und der Zuschauer steigender Befriedigung. Der Herr, dem das Theater zu gehören schien, eine schöne, würdige Dame, die ich für seine Gattin hielt und die mir gar nicht wie eine herumziehende Direktrice vorkommen wollte, eine andere sehr geistvoll aussehende Dame und der schöne Herr mit dem verrenkten Fuße bildeten unsere Zuschauer vom grünen Rasen her. Dahinter standen zwar noch einige Personen außer den silbergrauen Dienern, an Bäume gelehnt, aber ich entsinne mich nicht, eine davon persönlich kennen gelernt zu haben.

„Doch besinne ich mich noch sehr genau, wie unsere erste Liebhaberin, eins der reizendsten Mädchen mit der süßesten Stimme, die ich je gehört, die größte Besorgniß und Theilnahme für den invalid gewordenen Schauspieler merken ließ. Ihre reinen, strahlenden Augen verirrten sich während jeder Pause nach ihm; seine

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: eine paar
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verschiedene: Die Gartenlaube (1856). Ernst Keil, Leipzig 1856, Seite 542. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1856)_542.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)