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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

1816–17 eine Sonntagsschule für Lehrlinge und Gesellen und betheiligte sich an ihr, trotz seiner dreißig wöchentlichen Lehrstunden, zu denen der Subsistenz willen noch zwölf bis sechzehn Privatstunden kamen, mit ganzer Kraft in vor- und nachmittäglichen Lehrstunden auf die uneigennützigste Weise. Noch heute spricht er mit Begeisterung von seinem damaligen Wirken. Schon im Jahre 1818 finden wir Diesterweg an der lateinischen Schule zu Elberfeld, zwar nur bis 1820 an derselben thätig, doch ist diese Zeit für ihn von entscheidender Wichtigkeit. Elberfeld brachte ihn mit dem berühmten Schulmanne Friedrich Wilberg, dem „Meister am Rheine“ in Verbindung. Dreißig bis fünfzig Schulmänner sammelten sich hier allwöchentlich um Wilberg, Diesterweg unter ihnen. Gewiß hat Wilberg auf den Entschluß Diesterwegs, seine Thätigkeit dem Volksschulwesen zu widmen, großen Einfluß gehabt. Hören wir ihn selbst, als er im Jahre 1820 zum Seminardirector nach Mörs berufen ward: „Einst, als ich freiwillig, nachdem ich die materielle und geistige Noth des Volkes erkannt und die Zustände und Verhältnisse vieler Lehrer wahrgenommen, den Entschluß faßte, von der Laufbahn eines Lehrers an Gelehrtenschulen abzugehen und mich für immer dem Volksschulwesen, und was damit zusammenhängt, zu widmen, that ich das Gelübde, die Kräfte, die mir Gott verliehen, die Gelegenheiten, die er mir senden, die Mittel, die er mir spenden werde, dazu zu benutzen, daß es mit der Sache des Volkes, seiner Unterweisung und Erziehung etwas besser werde, damit ich nicht umsonst gelebt haben möge. Diesen Schwur habe ich bisher nach Möglichkeit zu halten gesucht.“

Pestalozzi’s Ideen über die entwickelnd erziehende Menschenbildung, welche nothwendig durch Selbstthätigkeit zur Selbstständigkeit und dadurch zur Selbstregierung leiten, durchzuführen, ward ihm Aufgabe seines Lebens. Ihrem Ausbau hat er Zeit und Kraft gewidmet, Wort und Schrift haben dazu beitragen und unermeßlich ist der Segen, welchen er hierdurch gestiftet. Kein Pädagog hat so wie Diesterweg auf diese allein wahren Grundsätze hingewiesen, für ihre Verwirklichung gearbeitet, für ihre Anerkennung gekämpft. Hören wir ihn selbst: „Wo das Schulwesen verfallen ist, ist es durch die Lehrer verfallen; wo es sich gehoben hat, hat es sich durch die Lehrer gehoben. Es gibt keinen andern Weg. Möglichst hohe Geistesbildung ist daher die Hauptaufgabe eines Seminars. Geweckte, denkende, selbstständige, folglich prüfende, untersuchende, reife Menschen – nur solche sind des Lehramtes würdig. Durch Vordenken und Nachsprechen, unbedingtes Annehmen vorgelegter Wahrheiten u. s. w. wird kein Mensch selbstständig, geistig lebendig und geweckt. Nichts ist mir in der Rede mehr zuwider, als die schemenartige Einerleiheit der Menschen, die Ausgelerntheit, Stocksteifheit der Pedanten, die todte Nachbeterei der Lehrformeln, das Prokrustesbett der Ausrecker und Kopfzuspitzer. Sie machen das Leben nicht nur langweilig und unausstehlich, sondern sie bringen durch den Despotismus, den sie wissend und nichtwissend auf die lebensfrohe, freithätige Jugend ausüben, um die frische und freie Naturwüchsigkeit und Eigenthümlichkeit, und tragen dazu bei, daß wir so wenige individuell gestaltete und in ihrer Sonderheit ausgezeichnete Menschen haben. Ein pedantisches Volk, diese Deutschen, sprechen die freieren Völker; kennt man einen, kennt man sie alle. Dieser Zustand ist zum großen Theil eine Frucht unserer zopfsteifen Schultyrannen.“ – Zwölf Jahre verlebte Diesterweg zu Mörs, geliebt und geachtet von Jedermann, ein glücklicher Lehrer trotz äußerlich jammervoller Lage. Seine Schüler hingen mit Verehrung an ihm, die Richtigkeit seiner Bildungs- und Erziehungsgrundsätze zeigte sich an allen, seine Vorgesetzten achteten und unterstützten ihn in allen seinen Unternehmungen. Ein Kreis von gleichgesinnten Freunden bildete sich um ihn, unter denselben Carl Hoffmeister, der berühmte, geistvolle Biograph und Commentator Schiller’s. Ueber confessionelle Verschiedenheiten war Diesterweg hinweg, darum nahmen an den Lehrcursen zu Mörs evangelische und katholische Zöglinge Theil, und Lehrer von beiden Konfessionen versammelten sich unter seiner Leitung zu Conferenzen: „die gemeinsame Liebe zu höheren Dingen erhebt über Verschiedenheit mancherlei Art, und geistig gesunde Menschen wählen ihre Freunde nicht nach kirchlichen Ansichten.“ Dagegen haßte er alle Pietisterei und allen Mysticismus, heilte die von diesen Verschrobenheiten befallenen Jünglinge, zog sich aber auch dafür die Feindschaft der Finsterlinge zu. Durch pietistische Pinselei und muckerisches Wimmern würde er sich ihre Freundschaft mehr, als durch die Richtung der Jünglinge auf das Ideale und die Weckung ihrer schlummernden Kräfte, erworben haben. Diesterweg liebte an seinen Zöglingen die aufrechte, senkrechte Stellung; durch naturgemäße Bildung die Entwickelung der Volkskraft, der Volksintelligenz, der Vernunft des Volkes durch vernünftige Schullehrer. Dadurch versah er es bei Jenen, welche hiermit Mangel an Bescheidenheit, an Demuth, Gehorsam, Kirchlichkeit und anderen Eigenschaften verbinden und meinen, durch solches Streben erziehe man Verstandeswüthriche und Hochmuthsteufel. Ein gewichtiges Wort Schmitthenners über Diesterwegs Wirksamkeit in Mörs und unter den Lehrern der Rheinlande mag hier eine Stelle finden: „Preußen hat am Rhein in Coblenz, Cöln und Wesel drei furchtbare Fenstungen gebauet und ausgebauet zum Schutz und Trutz gegen die Nachbarn und zur Sicherung des Reiches. Aber es hat eine andere aufgethürmet, die ist noch stärker und noch fester, das ist die Cultur des Volkes. An dieser nun hat der Dr. Diesterweg bauen helfen und beim Geniewesen tüchtige Dienste gethan, wie er denn ein ziemlicher Meister ist in Licht- und Feuerwerk. Darum hält ihn der Staat in Ehren.“ Und er hielt, müssen wir zusetzen, ihn damals in Ehren, später ist es leider anders geworden.

Schon 1830 hatte man ihm unerwartet eine Versetzung nach Berlin als Director an das zu begründende Seminar für Stadtschulen angeboten. Männer wie Bischof Roß, Kortüm und Strauß kannten seine Wirksamkeit vom Rheine her, Minister Altenstein war ihm gewogen. Gleichwohl sagte das Berliner Leben und Treiben ihm nicht zu, die Bedingungen waren nicht sonderlich günstig. Er stellte eine höhere Forderung, meinend, daß man nicht darauf eingehen werde, erhielt jedoch noch vor seiner Abreise von Berlin die schriftliche Zusage, daß man auf seine Wünsche eingegangen, und bald darauf kam ihm auch die Berufung zu. Die 1831 in Berlin wüthende Cholera verzögerte indeß seine Uebersiedelung, die erst im Mai 1832 ausgeführt ward. Lassen wir ihn seine Ankunft in Berlin selbst erzählen: „Es war am 5. Mai 1832 Morgens gegen 10 Uhr, gerade während des Durchgangs des Merkurs durch die Sonne, als ich mit Frau und acht Kindern in Berlin ankam. Am Rheine hatte ich einen alten Postwagen zur Reise gekauft. Er hatte bis dahin gut gehalten. In dem Augenblicke aber, als der Postillon in die Oranienburger Straße, in welcher meine künftige Wohnung lag, einbog, brach er zusammen. Es ward indessen Niemand verletzt und Niemand war erschrocken, es kam uns vielmehr lächerlich, fast natürlich vor, das alte Gestelle hatte ja seine Dienste geleistet; wir stellten uns auf die Beine und zogen zu Fuß in das Seminar ein. Ich habe indessen später oft an diesen Spuk denken müssen.“

Mit großer Freudigkeit trat Diesterweg in sein neues Amt. Die Sache ging, der rechte Mann lenkte das Schiff, die Seminaristen zeigten sich rüstig zur Arbeit, es waren wackere junge Leute darunter, ein tüchtiger Mann, der als naturhistorischer Schriftsteller bekannte, leider früh verstorbene Dr. Gabriel stand ihm als Lehrer zur Seite. Nur ein Wetter zeigte sich drohend am Horizonte: der ihm vorgesetzte Schulrath Otto Schulz, vor welchem er schon vor seinem Amtsantritte gewarnt worden war. Diesterweg hatte sich fest und heilig vorgenommen, alles Mögliche, was nur in seinen Kräften stand, zu thun, um mit ihm in gutem Vernehmen zu bleiben und, wie er selbst spricht, „die Jahre 1832–39 und die Geschichte meines inneren Lebens in diesen sieben Jahren können davon Zeugniß ablegen, ob ich das mir gegebene Versprechen gehalten habe oder nicht.“ Doch wir brechen hier augenblicklich ab, um Diesterweg’s literarischer Arbeiten ausführlicher zu gedenken, da diese, zwar schon in Mörs begonnen, doch in Berlin besonders gepflegt, ihn in den weitesten Kreisen zu dem gemacht haben, als welchen wir ihn mit Freuden anerkennen, zu Deutschlands bedeutendstem und einflußreichstem Schulmann der Gegenwart.

Diesterweg’s schriftstellerische Thätigkeit beschränkte sich außer einigen in die Volkspädagogik einschlagenden Broschüren und Aufsätzen fast nur auf die Angelegenheiten der Schulen, auf ihre äußeren und inneren Verhältnisse. Enthalten sind diese Arbeiten theils in selbstständigen Werken und Broschüren, theils in fast zahllosen Journalartikeln, namentlich in den von ihm seit 1827 herausgegebenen Rheinischen Blättern für Erziehung und Unterricht, einem Journale, welches des Trefflichen, Anregenden, die Schule Umgestaltenden unendlich viel mehr, als jede andere

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_138.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)