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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

Seitenhöhlen, bald aus grauroth umhoften Gasflammen (der Sonne und der Sternenwelt dieser unterirdischen Colonie) zu kommen schienen. Die spärlich und matt leuchtenden Glasflammen verschleiern die Oede und den Schmutz mehr, als sie ihn zeigen. Im Uebrigen sieht man nichts, als hier und da einen Stein, ein verfaultes Stück Brett, einen Schmutzhaufen in den Winkeln der Bogen – die Kopfkissen und Schlummerrollen der jetzt wandernden, in der Oberwelt handelnden, bettelnden, stehlenden, in unzähligen, fabelhaften Weisen um das nöthige Kupfer speculirenden Bevölkerung. Am Tage bleibt blos die Ausstattung, das Mobiliar dieser Paria’s zurück, der Schmutz, die gleichmäßige, auch während der Hundstage mit kaltem Schauer überrieselnde, feuchte, schmutzige Kälte, die verschimmelte Trostlosigkeit dieser Tropfsteinhöhlen des tiefsten Jammers der Menschheit. Es ist schauerlich still hier unten. Desto donnernder und die dicken Mauerbogen in ihren Fugen erschütternd knattert ein schwerer Wagen durch einen der Hauptbogen heran. Im trüben Gaslichte erglänzt das Eis, womit er beladen ist. Es sind Eiskeller hier unten, aus welchen Conditoren und Apotheker ihren kühlenden Trost für die fiebernde Oberwelt beziehen, außerdem Bier- und Wein- und sonstige Waarenlager, grimmig fest mit eisernen Thoren und Riegeln verschlossen. Die Eislager zeichnen sich in diesen dauerhaft kalten Regionen noch durch eine besonders eisige Atmosphäre aus, welche die Bewohner dieser Urwelt stets so lange sorgfältig vermeiden, als irgendwo noch Winkel und Abhänge unbesetzt ober vielmehr unbelegt sind.

Das ist die Architektur und Physiognomie dieser Unterwelt bei Tage. Ihr Leben kann man nur bei Nacht sehen.

Es war nach elf Uhr Abends, als wir zum zweiten Male in diese Dante’sche Hölle Londons eindrangen. Einzelne ermüdete Wanderer und Familiengruppen mit Kindern an den Lumpen der Mutter hängend und auf deren Armen tiefschlafend hingesunken, selbstständige Jungen und Mädchen, zum Theil mit Bruchstücken von Körben und Waaren darin (Wasserkresse, Wallnüsse, Meerschnecken, gekochte Schafpfoten, geräucherte, faule Fische u. s. w.) wandern von verschiedenen Richtungen herein. Hier und da kauern und liegen schon Lumpen einzeln oder zusammengehuddelt auf den schmutzigen Steinen oder an die feuchte Mauer gelehnt. Andere stieren oder lugen noch umher, eine besonders günstige Schlafstelle zu ermitteln, noch Andere schreien noch lustig ihre Waarenreste aus, und hier und da findet sich sogar ein Käufer. Zwei oder drei Mal begegneten wir Policemen, die mit ihren Blendlaternen grell und schnell in dunkele Lumpenhaufen hineinblitzten, um vielleicht irgend einen bekannten, geschäftsmäßigen Verbrecher zu entdecken und mit Bezug auf eine neueste Unthat, die in deren „Geschäftskreis“ fällt, zu untersuchen.

Horch, was wird dort ausgeschrieen? Betten?

„Betten! Betten! Betten! ’n Penny für die Nacht, nur’n Penny! Wasser, Seife und Feuer zum Kochen – Alles für’n Penny! Jetzt ist Ihre Zeit, Ladies und Gentlemen, jetzt ist Ihre Zeit!“

In den niedrigsten Winkeln, wo noch Hoffnung auf den miserabelsten kupfernen Gewinn ist, stellt sich die Speculation und die Geldmach-Leidenschaft dieses furchtbaren Babylon ein und versucht und macht Geschäfte und Geld.

„Betten! Betten! Betten! ’n Penny für die Nacht, nur ’n Penny! Wasser, Seife und Feuer dazu – Alles für ’n Penny!“

Das Individuum, aus dessen schrillem, heiserem Halse dieses Evangelium der Nacht verkündigt wird, ist der Gesandte eines menschenfreundlichen Juden, der in einer der schauderhaftesten Winkelstraßen bei Coventgarden ein sogenanntes „Logir-Haus“ mit den Vorschriften der Parlamentsacte nicht ganz im Einklange hält, ohne dafür verrathen und bestraft zu werden. Er und die, welche ihn zur Strafe ziehen könnten, wissen recht gut, wie man’s macht, um geschäftsmäßig dem Parlamente und der Polizei zu trotzen.

„Penny die Nacht! Penny die Nacht! Noch mehr Ladies und Gentlemen, die für ’n Penny gut schlafen wollen? Jetzt ist Ihre Zeit! Penny die Nacht, only one penny!“

Für Manchen dieser obdachlosen Unterweltler, die noch im Beginn ihrer Laufbahn stehen und denen die Adelphi-Bogen und das menschenfreundliche Judenhaus noch neu sind, kommt diese frohe Botschaft wie die Stimme eines versöhnenden Friedenengels aus der Gesellschaft oben – seinem grimmigen Feinde. Anderen verursacht die Verkündigung derselben frohen Botschaft Magen- und Gewissensbisse. Sie haben keinen Penny oder wollen ihn zum Frühstück sparen. Ungefähr ein halbes Dutzend finden den Penny und contrahiren für ein Bett mit Wasser, Seife und Feuer zum Kochen. Einige Neulinge zahlen sogleich, Andere halten ihr kostbares Goldstück zurück, um erst zu sehen, was ihnen dafür geboten wird.

„Penny die Nacht! Penny die Nacht! Noch mehr Ladies und Gentlemen, die Nachtquartier, Bett, Wasser, Seife und Feuer zum Kochen für ’n Penny wünschen?“

Keine Candidaten mehr. Unter 3–400 Ansiedlern in dieser Unterwelt blos sechs oder sieben, die einen Penny für solch’ ein kostbares Nachtquartier haben oder erübrigen können. Also alle die Uebrigen siedeln sich in dieser Unterwelt an? Nein! Hört, welch’ seltsame Scene!

„Welche Lady oder welcher Gentleman,“ schreit der Juden-Agent, „wünscht ein Nachtquartier für’n Farthing?“[1]

„Ich und ich und ich! Ich auch! Auch ich!“ schreien unzählige Stimmen durcheinander und drängen sich zu dem Menschenfreunde.

„Gut! gut! Wart’t ’mal!“ schreit er abwehrend. „Kann irgend ’n Gentleman oder ’ne Lady hier ein Nachtquartier mit Federbett erster Classe, Kopfkissen, Nachtquartier, Wasser, Seife und Feuer zum Kochen für ’n Farthing erwarten? I, da ist ja die Seife allein mehr werth!“ (Ganz gewiß, wenn sich Einer der Candidaten damit rein wüsche.)

„Na, denn halt’t uns nicht weiter für’n Narren, Gov’nor![2] Wir sind müde. Wozu denn nun das Geschrei?“

Aber der Menschenfreund läßt seine Gelegenheit nicht fahren.

Er weiß, wie man auch aus der versunkensten Armuth noch Geld auskitzeln kann.

„Je vier Ladies oder Gentlemen geben Jeder ’n Farthing. Macht ’n Penny. Die Vier werfen dann (mit einer Münze) und wer zuerst Kopf hat (wessen Geldstück geworfen zuerst die Seite mit dem Kopfe oben hat), der hat das Bett gewonnen mit Wasser, Seife und Feuer zum Kochen. Das ist unser Geschäft!“

Ueber Dante’s Hölle stand: „Wer hier eintritt, lasse die Hoffnung zurück!“ In Londons Hölle zieht sie mit ein. Keine menschliche Lage, kein in den tiefsten Schmutz zusammengetretenes Elend, kein abgejagtes, zum letzten Athemzuge niederbrechendes Menschenherz, wo nicht die Hoffnung noch ein letztes Trostfünkchen erwecken könnte. Auch hier gibt’s noch materielle und moralische Vermögensgrade. Ehrgeiz, Trost, Hoffnung auf eine günstige Drehung des Glücksrades – man findet sie gar noch unter den Adelphi-Bogen. Mancher Marquis, nach dem „Herzog“ strebend, mancher geheime Rath mit dem „vierten“ und auf den Adlerorden dritter Classe hoffend, mancher Crösus, um das letzte Tausend zur vollen Million kämpfend, blickt mit matterer Aufregung auf die entscheidende Wendung, als diese je vier Farthing-Lotteriespieler auf den Fall ihrer dem Schicksal in die Höhe geworfenen Münzen. Welch’ eine Spannung, wenn der Farthing in die Höhe geworfen wird und klanglos unter der Laterne in den Schmutz fällt! Welch’ strahlende Freude in dem verkümmerten Gesichtsschmutze des Glücklichen, der das Bett gewann! Mancher fordert das Schicksal mit einem zweiten Farthing noch einmal heraus, blos um der Lust der Aufregung willen. So bildet der Judengesandte unter der Gaslaterne manche Spielergruppe von je vier Personen mit eifrig stierenden Zuschauern. Das Glück der Gewinnenden, die glühende Beredsamkeit des Judengesandten, der die himmlischen Freuden eines Federbettes erster Classe für’n Penny malt, treiben manche Hand hinunter in unentwirrbare Labyrinthe von Fetzen und Lumpen, um den irgendwo verkrochenen Farthing auszuforschen und damit das Glück herauszufordern.

Nachdem der Judengesandte aus allen Taschen die letzten Farthings herausgezaubert und aus je vier Spielern einen Glücklichen extrahirt hat, geht er mit seinen Penny-Candidaten und seinen glücklicheren Farthing-Auserkornen wie ein Werber mit seinen Rekruten ab, um je Vier auf einen Sack voll Stroh und Werg und zwölf bis sechzehn Personen ohne irgend eine Rücksicht auf Alter und Geschlecht in je eine miserable kleine Höhle des Judenhauses zusammenzupferchen.

  1. Ein Farthing, die niedrigste englische Münze, ist der vierte Theil eines Penny und ein Penny ist gleich zehn Pfennigen.
  2. Gov’nor = Governor = Gouverneur (geehrter Herr, ironisch).
Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 562. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_562.jpg&oldid=- (Version vom 21.10.2022)