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verschiedene: Die Gartenlaube (1857)

nicht in lyrischer Sehnsucht nach einem unbestimmten Lebensziele; wie von einem Blitze erleuchtet, stand es plötzlich in scharfen Umrissen und von reiner Glorie umflossen vor dem dürstenden Jünglingsauge seiner Seele und er rang sich diese Seele nicht wund an Hindernissen und Unmöglichkeiten: er wollte und deshalb konnte er. Einmal sich seiner Kraft bewußt, gab es kein Hinderniß für den jungen Helden, leicht und kühn rang er sich aus den engen Schranken des Vaterhauses empor; er wußte nun, daß er Flügel hatte, er ahnete, daß es Adlerfittiche seien, und damit war ihm auch die Nothwendigkeit gegeben, sie zu gebrauchen. Und sein erster Flug ging gleich nach der Sonne. Wie sein Landsmann Joh. Andreas Stumpff 26 Jahre früher, wanderte Meyer im gleichen Alter, mit eben so geringen pecuniären Mitteln und unter sehr ähnlichen Verhältnissen nach London. Nichts als seine Kenntnisse, seinen glühenden Willen, seine sprudelnde Thatkraft hatte der zwanzigjährige Kattunhändler, als er im Frühling 1816 in der Weltstadt anlangte. Thatkräftige poetische Naturen waren beide Jünglinge, aber Stumpff’s lyrische Natur arbeitete sich still und langsam zu einer, wenn auch behaglichen, doch immer bescheidenen Existenz empor; Meyer’s dramatische Natur erstürmte sich ein glänzendes großartig bewegtes Leben, gleich einem Perseus auf dem Flügelrosse. Der erste Wurf zeigte, weß Geistes Kind er war; mochte er gelingen oder mißglücken, er bethätigte die herakleische Kraft des Werfers. Mit rastloser Anstrengung macht sich Meyer alle ihm nöthig erscheinenden Elemente jener kaufmännischen und Lebensbildung, wie sie ein Stapelplatz des Weltverkehrs erheischt, zu eigen und erringt sich eine würdige Stellung in einem großen Handelshause. Tausende hätten sich damit begnügt und sich der großen und bunten Lebensströmung überlassen; nicht unser junger Thüringer. Nicht ein Getriebener konnte er sein, sondern ein Treiber; nicht als „dienendes Glied“, sondern als „Ganzes“ mußte er wirken.

Ohne Zaudern orientirt er sich in Natur und Wesen der dortigen Platzgeschäfte und hat sich zum Erstaunen Aller, die ihn kannten, in der unglaublich kurzen Zeit eines Jahres aus der bescheidenen Sphäre eines Commis in die stolze weitgreifende eines selbstständigen großen Londoner Speculanten emporgeschwungen. Unerhörte Kühnheit von unerhörtem Erfolge gekrönt! Der einundzwanzigjährige Sohn der kleinen thüringischen Residenzstadt, vor einem Jahre noch Lappen- und Bandkrämer auf den idyllischen Jahrmärkten seines speciellen Vaterländchens, jetzt unter den Tonangebern der Londoner Börse, ein genannter Geschäftsmann auf dem Weltmarkt und mit den Millionären verkehrend, als sei er Einer aus der Clique, ein aus der Dichtung des großen Briten in die Wirklichkeit gesprungener königlicher Kaufmann von Venedig. Aber als sollte er, der poetische Waghals, auch das vom Dichter geschaffene Schicksal jenes idealen Kaufmanns erfüllen, stürzte er, nachdem er drei Jahre alle Wechselfälle seines gefährlichen Geschäftszweiges erlebt, ungeheuere Summen gewonnen und verloren und seinem Namen eine glänzende Geltung verschafft hatte, von der schwindelnden Höhe, die er athemlos erklommen, getroffen von wiederholten Wetterschlägen widriger Conjuncturen, und beschloß, 24 Jahre alt, im Londoner Schuldgefängniß den ersten Abschnitt seines außerordentlichen Sturm- und Dranglebens.

Das ist wahr! er verstand es schon damals, die Leute von sich reden zu machen. Als Schüler des Gothaischen Gymnasiums hörte ich damals zuerst von Meyer, der mir sieben Jahre älter als ich war, und in einer mir befreundeten Familie, deren Oberhaupt mit Meyer’s Vater in enger Geschäftsverbindung gestanden, erfuhr ich sehr interessante Details über seine Persönlichkeit. Erst hatte man in Gotha viel bewundernden Rühmens von seiner unerhörten Londoner Carrière gemacht, als sie aber wie Ikarus’ Sonnenfahrt endigte, hatte natürlich jede Philisterweisheit das vorausgesehen, und als vollends Meyer’s Vater all’ seine Habe zum Opfer brachte und auch die Hülfe des Herzogs August in Anspruch nahm, um den Sohn zu befreien und zu retten, da hatte Gotha nicht Material genug, um den verwegenen Sonnenfuhrmann zu steinigen. Die ganze Stadt sprach von ihm, und man erinnerte sich mit Genugthuung, welcher Ungeberdigkeit wegen er das Gymnasium verlassen hatte. Deshalb that der junge Schiffbrüchige wohl daran, daß er nicht in seine Vaterstadt zurückkehrte, sondern das ihm so theure Haus seines Lehrers und Erziehers in Weilar aufsuchte. Hier empfing ihn alte Liebe mit Herzlichkeit, und junge Liebe blühte mit Inbrunst für ihn auf. Des Pfarrers Tochterlein, Minna, das er einst als Kind verlassen, war zur zarten sittigen Jungfrau heraufgeblüht, und der junge unglückliche Held fand in ihrer Theilnahme an seinem Geschick den rechten Trost, in ihrem Umgange die rechte Erheiterung, so daß ihm die augenblicklich gelähmten Flügel schnell wieder erstarkten. Wie er in Weilar einst das schönste Knabenglück gefunden, so fand er jetzt hier wiederum das schönste Jünglingsglück. Aber die Liebe machte ihn nicht zum unthätigen Träumer; sie gab ihm im Gegentheil neue Kraft zum Handeln und Streben, und in dieser Kraft einen höhern Schwung. Denn in dem großartigen neuen Industrieunternehmen, das er hier begründete, verband er zum ersten Mal mit der merkantilen Thätigkeit jene nicht genug zu rühmenden Humanitätsbestrebungen nach ungewöhnlichem Maßstabe, welche in seiner ganzen spätern, sich immer gewaltiger entfaltenden Wirksamkeit maßgebend und bestimmend für ihn geworden sind.

Das neue Etablissement, welches er in Gemeinschaft mit den in der Nähe begüterten edlen Herren von Boyneburg in Weilar unter der Firma „Gewerbs- und Hülfsanstalt“ schuf, hatte nämlich die Hebung und Belebung der Spinnerei und Weberei jener armen Gegend zum Zweck und versprach ein reicher Segensborn für das dortige Proletariat zu werden.

Aber ein eigenthümlicher Unstern waltete über Meyer’s ersten Schöpfungen. So gut sie auch anfangs prosperiren, so gehen sie doch dann rasch an der Ungunst äußerer Umstände zu Grunde. Auch das Weilarsche Unternehmen scheiterte nach drei Jahren (1823) an der Feindseligkeit eingetretener Conjuncturen, welche seine planmäßige Entwickelung verhinderten. Das geschäftliche Verhältniß Meyer’s mit den Herren von Boyneburg löste sich zwar, aber die freundschaftlichen Beziehungen und der geistige Verkehr zwischen beiden Parteien dauerten fort und übten sogar auf Meyer’s spätere Lebensverhältnisse gestaltenden Einfluß. Zu derselben Zeit starb Meyer’s Vater, und die Zurechtstellung seiner Familienverhältnisse führte ihn wieder nach Gotha.

Hier trat er sehr bescheiden als Privatlehrer der englischen Sprache auf und lebte zurückgezogen. Bald war er ein gesuchter Lehrer, der sich schon nach einigen Monaten als Schriftsteller eigne Bahn brach. Er gab nämlich im eigenen Verlage ein „Correspondenzblatt für Kaufleute“ heraus, das wegen seiner neuen und originellen Ansichten und ungewöhnlichen Sprache rasch allgemeine Verbreitung findet und des Verfassers Ruf als kaufmännischer Schriftsteller begründet. Mit diesem Blatte beginnt eine neue Aera in Meyer’s Leben, die der literarischen und buchhändlerischen Thätigkeit, welche, von nun an nie wieder geschieden, ihn vereint bis an’s Lebensende begleitete. Denn er ist stets Schriftsteller und Buchhändler zugleich gewesen, ohne was der Vielgestaltige sonst noch war. Zwar stand er eine Zeit lang 1824 und 1825 mit der Hennings’schen Verlagsbuchhandlung in Gotha in Geschäftsverbindung, aber sie zerschlug sich bald wieder, und Meyer entfaltete seine bibliopolische Taktik, die von der zeither in Deutschland üblichen himmelweit verschieden war.

Wie die beiden ersten mercantil industriellen Etablissements Meyer’s in London und Weilar eigentlich Fehlgriffe, Uebergriffe in’s Riesige und Massenhafte waren, aber großartige Irrthümer, wie sie nur ein Genie von so eigenthümlich hochgestimmter Besaitung wie Meyer begehen kann, so war auch sein erstes größeres literarisches Unternehmen ein merkwürdiger Fehlgriff, der ebenfalls vollgültiges Zeugniß von Meyer’s kühner Genialität nach einer andern Richtung hin ablegte. Ich meine seine damals mit großem Aufsehen oder eigentlich Spott und Tadel aufgenommene, jetzt wohl ziemlich vergessene Uebersetzung, richtiger Bearbeitung und Verbesserung einiger Shakespeare’schen Dramen, des Macbeth, Othello und Sturm (denn die übrigen, im Verlage der Hennings’schen Buchhandlung in Gotha erschienenen Shakespeare-Stücke sind nicht von Meyer bearbeitet).

Es war doch in der That der verwegene Griff eines jungen Kaufmanns, der in London in mercantiler, in Weilar in industrieller Wirksamkeit falsch speculirt hatte, nun den größten Dichter des christlichen Zeitalters für die Deutschen bearbeiten, resp. verbessern zu wollen. Aber nur ein gewaltiges Genie konnte einen solchen Mißgriff thun. Große Menschen sind in allem groß und oft in ihren Irrthümern am größten. Gleichzeitig begann Meyer eine gelungene Uebersetzung Walter Scott’scher Romane in bis dahin unerhört billiger Ausgabe. Nur „Waverley“ und „Ivanhoe“ sind vollständig erschienen. Eine junge süddeutsche Buchhandlung

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verschiedene: Die Gartenlaube (1857). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1857, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1857)_615.jpg&oldid=- (Version vom 8.11.2022)