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zurück. Ziegen, Schafe, Schweine etc. finden den Weg zum Stalle, und unter hundert Ständern erkennt das Pferd den seinigen wieder; es kennt noch nach Jahren seinen Cameraden, seinen Wärter, seinen Reiter oder das Wirthshaus, in dem es ihm wohlgegangen ist; nach langer Zeit weiß es, wer ihm Gutes gethan oder es mißhandelt hat, erkennt nach geraumer Zeit den Thierarzt, der an ihm eine Operation vorgenommen hat, und schlägt nach ihm; sowie der Pudel den, der ihn geschoren hat, erkennt und sich verkriecht, wenn dieser wieder kommt.

Daß die in der Kindheit empfangenen Eindrücke sich so tief dem Gedächtniß einprägen, rührt zum Theil von dem lebhaftern Interesse her, das wir in der Kindheit an Allem nehmen, und von der gespanntern Aufmerksamkeit, die wir auf Alles richten; zum Theil aber auch daher, daß wir, wie Arthur Schopenhauer richtig bemerkt, als Kinder nur wenige und hauptsächlich anschauliche Vorstellungen haben und wir diese daher, um beschäftigt zu sein, unablässig wiederholen. Bei Menschen, die zum Selbstdenken wenig Fähigkeiten haben, ist dieses ihr ganzes Leben hindurch der Fall, daher solche bisweilen ein sehr gutes Gedächtniß haben. Dagegen hat das Genie bisweilen kein vorzügliches Gedächtniß, wie z. B. Rousseau dies von sich selbst angibt. Es ist dies nach Schopenhauer daraus zu erklären, daß dem Genie die große Menge neuer Gedanken und Combinationen zu vielen Wiederholungen keine Zeit läßt; obwohl dasselbe sich nicht leicht mit einem ganz schlechten Gedächtniß verbunden findet, weil hier die größere Energie und Beweglichkeit des Geistes die anhaltende Uebung ersetzt. Es ist eine sehr interessante Bemerkung Schopenhauer’s, daß Menschen, die unablässig Romane lesen, dadurch ihr Gedächtniß schwächen, weil nämlich auch bei ihnen, wie beim Genie, die Menge rasch vorüberziehender Vorstellungen und Zusammenstellungen keine Zeit noch Geduld zur Wiederholung und Uebung läßt. Die lesegierigen Abonnenten der Leihbibliotheken werden dies aus eigener Erfahrung bestätigen können. Ueber jeden neuen Roman vergessen sie schnell die alten.

Wenn Genies leicht die kleinen Angelegenheiten und Vorfälle des alltäglichen Lebens vergessen, beschränkte Köpfe hingegen hiefür ein sehr gutes Gedächtniß haben, so rührt dies daher, daß jene mit ihrem Interesse auf größere Dinge gerichtet sind, diese hingegen mit ihrem Interesse am Kleinen und Kleinlichen kleben bleiben. Das Genie behält sich dafür die ihm wichtigen Dinge auf eine leichte, mitunter erstaunliche Weise.

Schüler, die leicht lernen und begreifen, pflegen eben so leicht zu vergessen; dagegen behalten die, welche mit Mühe und Anstrengung lernen, das Erlernte in der Regel besser. Dies erklärt sich einfach daraus, daß der leicht und schnell Lernende mit der kürzern Zeit auch einen schwächern Grad von Aufmerksamkeit auf den Gegenstand richtet, der mühsam Lernende hingegen länger und stärker mit der Aufmerksamkeit dabei verweilt. Also auch in Bezug auf das Gedächtniß gilt das Sprüchwort: „Wie gewonnen, so zerronnen.“

Bemerkenswerth ist es, daß zusammenhängende Vorstellungen sich leichter behalten, als vereinzelte, in keinem Zusammenhang stehende. Ein Satz z. B. behält sich leichter, als eine Reihe unzusammenhängender, unverbundener Wörter, Namen oder Zahlen. Es verräth sich hierin die auf Sinn und Zusammenhang gerichtete Natur des Geistes.

Selbst eine Reihenfolge von Vorstellungen, die nur durch das äußere Band der Ideenassociation (Vergesellschaftung der Ideen), nicht aber durch einen inneren Sinn verbunden sind, behält sich leichter, als eine Reihenfolge völlig unverbundener Vorstellungen.

Auf diesem Gesetze, daß verbundene Vorstellungen sich besser behalten lassen, als isolirte, beruhen die Regeln der Mnemonik (Gedächtnißkunst). Es soll z. B. die Bezeichnung der fünf Notenlinien e. g. h. d. f. dem Clavierschüler auf eine leicht zu behaltende Weise beigebracht werden. Man bildet den Satz: „Es geht hurtig durch Fleiß,“ und der Schüler hat dann nur den Anfangsbuchstaben eines jeden dieser Wörter sich in die Erinnerung zu bringen, um die verlangte Bezeichnung e. g. h. d. f. zu behalten. Auf ähnliche Weise erleichtert man sich das Behalten von Zahlen; man substituirt den Zahlen Buchstaben, verwendet diese zu Worten und Sätzen und erinnert sich dann mittelst dieser der Zahlen. Dies war das Verfahren eines Gedächtnißkünstlers, der vor mehreren Jahren zu Berlin Vorlesungen über Gedächtnißkunst hielt. Die Regeln der Mnemonik laufen alle im Wesentlichen darauf hinaus, Einzelnes, Ungebundenes durch Anknüpfung an eine im Gedächtniß vorhandene zusammenhängende Reihe von Vorstellungen in die Erinnerung zurückzurufen. „Das Bestreben des Geistes,“ sagt Jessen, „den Zusammenhang der Dinge zu erfassen, wohnt auch dem Gehirne mehr oder weniger ein, und selbst die Sinne suchen Alles im Zusammenhange aufzufassen. Auf dem Zusammenhange der Vorstellungen beruht die Ideenassociation, und was im Zusammenhang mit Anderem steht, reproducirt sich am leichtesten in der Erinnerung. Wenn wir von einem vergessenen Worte oder Namen erst den Anfangsbuchstaben wissen, so knüpft sich an diesen sehr leicht das Hervortreten des ganzen Wortes, und unsere Bemühungen, einen gesuchten Namen zu finden, bestehen immer in dem Hervorrufen von Erinnerungen, die mit demselben in irgend einer Verbindung stehen. Ein gelesener Name kann uns wieder einfallen, wenn wir daran denken, ob er oben oder unten auf der Seite des Buches stand.“

Um die Erscheinung zu erklären, daß manche Menschen ein gutes Namen-, Andere ein gutes Zahlen-, wieder Andere ein gutes Ortsgedächtniß, noch Andere ein gutes Personen- oder ein gutes Sachgedächtniß haben, nehmen bekanntlich die Phrenologen besondere Organe des Gehirns als den Sitz dieser verschiedenen Arten von Gedächtniß an. Richtiger aber dürfte die besondere Stärke des Gedächtnisses in einer speciellen Richtung als Folge des Interesses und der Uebung zu betrachten sein. Wir stimmen Jessen bei: „Wer für Personen, für Namen, für Zahlen, für Verwandtschaftsverhältnisse ein außerordentliches Gedächtniß hat, der hat zugleich für diese Dinge ein besonderes Interesse, er hat in seinem Leben viele Zeit und Aufmerksamkeit darauf verwandt, und sein Gedächtniß in diesen besondern Richtungen sehr geübt.“

Aber daß man nicht nöthig hat, mit Gall und den andern Phrenologen bei den Virtuosen im Rechnen ein besonderes Organ für Zahlen anzunehmen, sondern diese Virtuosität einfacher und natürlicher erklären kann, das lehrt Dahses Entwickelungsgeschichte. Mit Recht sagt Jessen, der Dahse beobachtet und befragt hat, und dem wir manche schätzbare Mittheilungen über denselben verdanken: „Aus der ganzen Art und Weise, wie die Fähigkeit und Fertigkeit des Rechnens sich bei Dahse entwickelt hat, geht hervor, daß diese bei ihm nicht entstanden sind durch einen angeborenen Zahlensinn, sondern erworben durch beharrliche, mit eisernem Fleiße fortgesetzte Uebung, in einer ähnlichen Weise, wie sie bei Equilibristen und sonstigen Virtuosen zu einem ähnlichen Ziele führt. Wer mit dem siebenten Jahre anfängt, Clavier zu spielen, und täglich sieben Stunden übt, der muß es nach dem Ausspruche eines berühmten Fortepianospielers zu großer Virtuosität bringen. Und warum sollte nicht ebenso, wer mit dem siebenten Jahre anfinge zu rechnen, und zehn bis zwanzig Jahre lang täglich sieben Stunden rechnete, ein zweiter Dahse werden können? In der That schlagen die Phrenologen den Einfluß beharrlicher Uebung und ausschließlicher Beschäftigung mit einem Gegenstände zu gering an.“

Schwerer zu erklären, als die Virtuosität des Gedächtnisses in besonderen Richtungen, ist der oft beobachtete theilweise Verlust des Gedächtnisses. Manche vergessen ihren oder anderer Leute Namen, Manche finden das rechte Wort zur Bezeichnung einer Sache nicht und brauchen dafür ein anderes, das eine von ihnen nicht gemeinte Sache bezeichnet, so daß eine Art babylonischer Sprachverwirrung entsteht. So soll z. B. die Frau des berühmten Professors der Mathematik Hennert zu Utrecht, die selbst Mathematiker und Astronom wie ihr Mann war, plötzlich nach einer Krankheit in eine solche Sprachverwirrung gerathen sein, daß sie, wenn sie einen Stuhl begehrte, einen Tisch forderte, oder wenn sie ein Buch haben wollte, einen Spiegel verlangte. In einem andern ähnlichen Falle von Sprachverwirrung sagte eine Frau, als sie ein Glas haben wollte: „Gieb mir doch den Hund.“ Der gelehrte Director S. zu C. erholte sich von einem hitzigen Fieber, und eines der ersten Dinge, die er nach wiedererlangter Vernunft verlangte, war Kaffee. Allein er hatte in dieser Krankheit nicht nur den Buchstaben f vergessen, sondern er gebrauchte dafür den Buchstaben z, so daß er nun nicht Kaffee, sondern Kazze verlangte, und so in allen andern mit f zusammengesetzten Wörtern. Bisweilen vergessen Personen nach Schlaganfällen oder Betäubungen das kurz vorher oder auch in den letzten Jahren Vorgefallene, das Frühere wissen sie aber noch sehr wohl.

Derartige Erscheinungen sind schwer zu erklären; aber wie

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 219. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_219.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)