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verschiedene: Die Gartenlaube (1860)


ganz in der Nähe von Misaneiken wohnenden kranken Verwandten. Dort blieb sie einen Tag und eine Nacht, erhielt verabredetermaßen in dieser Zeit den verheißenen Zaubersaft und machte sich mit demselben und ihrem Kinde auf den Rückweg.

Durch die beiden anstrengenden Märsche, die der jungen Mutter begreiflicherweise nicht zuträglich sein konnten, hatte natürlich auch das Kind gelitten. Es begann unruhig zu werden, verlor den Appetit und magerte zusehends ab. Man gebrauchte allerlei Hausmittel; die eine Nachbarin rieth dies, die andere jenes an; aber – es half nichts! Das Kind wurde nur immer schwächer und bleicher. Trotzdem aber stand Frau Grigat nicht von ihrem Vorhaben ab, die Mixtur der Szidat zu erproben, als der Mond in sein erstes Viertel gerückt war.

Der Mann hatte sich zu einem Pferdemarkte begeben, – um so ungestörter konnte sie ihre heimliche Unternehmung in’s Werk setzen. Pünktlich um ein Uhr stand sie von ihrem Lager auf, holte den sorgfältig verborgenen Trank herbei und flößte davon dem Kinde einen Löffel voll ein, den die Kleine geduldig hinunterschluckte. Aber was war das? Kaum hat die Mutter sich wieder zu Bette gelegt, als sie ein ganz sonderbares Geräusch vernimmt, ein leises Stöhnen, Glucksen, Röcheln. Sie springt entsetzt auf und eilt an die Wiege des Kindes, das mit weit aufgerissenen Augen in derselben liegt und die wunderlichsten Grimassen schneidet.

„Aha,“ denkt die thörichte Frau in ihrem fast unglaublich erscheinenden Wahne, „das Mittel beginnt zu wirken! Die Züge fangen ja schon jetzt an sich zu verändern! O, mein Kind wird schön werden, so schön wie ein Engel!“

Immer mehr und mehr veränderten sich die Züge des Kindes; der Blick wurde matter, die Muskeln schlaffer, bis nach Verlauf von wenigen Minuten das ganze Antlitz eine gelbliche, wachsartige Färbung annahm. Die leisen Klagelaute verstummten, der kleine Körper streckte sich – und das Leben entfloh!

Nun erst begriff die Mutter, was vorgegangen war! Mit einem wilden Schrei warf sie sich auf die Leiche ihres Kindes, riß sie aus der Wiege und preßte sie mit verzweiflungsvoller Heftigkeit an ihr Herz. Umsonst, – die kleinen Glieder wurden nur mit jedem Augenblick kälter und steifer! Das laute Schreien und Jammern der Mutter rief die Nachbarn herbei. Der Vorfall ward offenkundig und gab der Staatsanwaltschaft Veranlassung, eine Anklage gegen Frau Grigat auf fahrlässige Tödtung ihres Kindes zu erheben.

Natürlich wurde die Szidat zur Verantwortung gezogen. Sie versuchte zwar anfänglich, ihre Theilnahme an der verübten Missethat abzuleugnen, mußte aber endlich doch die Aussagen der Grigat bestätigen. Da sie indeß der Grigat ausdrücklich gesagt haben wollte, daß das Kind nicht leidend sein dürfte, wenn es den Trank eingeflößt erhielte, – die Grigat wußte sich dieser Mahnung nicht zu entsinnen! – und da eine chemische Analyse ergab, daß das Gebräu allerdings keine absolut giftigen Substanzen enthalte, wohl aber ein übermäßig scharfer Pflanzendecoct sei, der einem gesunden Magen nicht schädlich sein würde, – so ward die Szidat durch das Geschwornengericht von der gegen sie erhobenen Anklage wegen Mitschuld an einer fahrlässigen Tödtung freigesprochen, dagegen aber wegen unbefugter Verabreichung von Medicamenten und betrüglicher Quacksalbereien zu mehrwöchentlicher Gefängnißstrafe verurtheilt.

Frau Grigat, welche erweislich aus Unverstand und Leichtgläubigkeit ihr Kind getödtet hatte, wurde für unzurechnungsfähig erklärt und demgemäß freigesprochen.

Aehnliche Fälle ereignen sich nur zu häufig und liefern den Beweis, wie nöthig es ist, durch Unterricht und Volksschriften endlich auf Beseitigung der tief eingewurzelten Krankheit des Aberglaubens zu wirken.

Cl. J.




Ein Capitel aus der criminalistischen Tagesgeschichte Englands.

Es vergeht zwar kein Tag in England ohne Verbrecher- und Mordgeschichten, aber im August dieses Jahres häuften sie sich mehr als gewöhnlich und regten auch die abgestumpften und daran gewöhnten Nerven auf. Die Bevölkerung Englands gehört zu den dichtesten. Das erklärt viel, ist aber durchaus nicht die Hauptursache des Uebels. In Belgien und an einem Theile des Rheines kommen mehr Menschen auf die Quadratmeile, und man hört nichts von diesen scheußlichen Missethaten, womit die englische Gesellschaft fast alle Tage und Nächte auf’s Neue ärger und ärger gebrandmarkt wird. Auch kommen, statistisch erwiesen, nicht die meisten Verbrechen auf die allerdichteste Bevölkerung in der Welt, auf London. Auch fallen sie häufig nicht auf die Kinder der Noth, des Elends und der Verwahrlosung, sondern ergeben sich vor dem Richterstuhle als wohlberechnete, kaltblütig angelegte und durchgeführte Speculationen mehr oder weniger wohlhabender und gebildeter Menschen. Was ist unsere sogenannte moderne Bildung? In England Geld, Sammet und Seide, Equipage, Reitpferd, zwanzig Dienstboten, Maitreffen, Schwindel an der Börse, in der Politik, Betrug und Satrapie in den Colonien. Nach der „Morning Post“, dem Organe der höchsten Classen, charakterisiren sich die „obersten Zehntausend“, deren Helden und Heldinnen während der Parlamentszeit täglich zu Tausenden im Hyde-Park-Corso reiten und fahren, durch raffinirte sexuelle Unsittlichkeit. Die Zeitung führte mehrere Züge an, unter Anderem, daß die sittlichen Ladies, die so illusorisch auf ihren Pferden paradiren, sich bei den höheren Gentlemen, den jungen und alten Lords, Counts, Viscounts und Baronets, dadurch interessant zu machen suchen, daß sie es den öffentlich anerkannten, unter ihnen reitenden und fahrenden Entretenues, Aspasien, Hetären und Hierodulen in Worten und Manieren, im Benehmen und Geben möglichst nachzuahmen suchen. Die Tugend und Respectabilität sei langweilig, als Humbug und Hypokrisie lächerlich geworden. Ueberhaupt sündige man nicht etwa aus besonderer Sündhaftigkeit, sondern aus Langeweile, um sich die Zeit zu vertreiben.

Grobe Verbrechen, wie Mord und Todtschlag, kommen in den höheren und höchsten Kreisen allerdings kaum vor; man macht Alles „subtil“ ab. Desto ärger ist’s in den Mittel- und untern Classen. Wir lassen eben die hauptsächlichsten Verbrechen, die sich während der letzten Wochen besonders hervordrängten, dicht hinter einander aufmarschiren. Wir übergehen, daß eben zwei Mörder ihrer Geliebten, der eine in Warwick, der andere in Carlisle gehängt worden waren.

In London sollte am 4. September Morgens der gröbste aller Mörder dem Pöbel und der Ruchlosigkeit sein Galgenfest geben. Niemand hat die demoralisirende Kraft und Bestialität dieser Hängescenen drastischer und eindringlicher geschildert, als Charles Dickens. Der Mörder, Namens Youngman, war der Sohn eines Schneiders in Walworth, einem südlichen Theile Londons. Nachdem er verschiedene Dienststellen bekleidet und schon bestraft worden war, zog er wieder zu seinem Vater, um Vorbereitungen zu seiner Verheirathung zu treffen. Eines Tages holt er seine Braut in’s väterliche Haus. Sie schläft mit seiner Mutter, zwei seiner kleineren Brüder in einer andern Stube auf demselben Flur, er selbst im Bette seines Vaters, der sich unten in der Werkstatt ein Lager zurecht gemacht. Braut und Bräutigam kommen Abends ganz vergnügt von einem Ausfluge nach Hause, und Alles begibt sich mit Aussichten auf eine frohe Hochzeit zur Ruhe. Morgens gegen 6 Uhr werden verschiedene Schläfer durch einen unheimlichen Lärm aufgeweckt. Der Wirth des Hauses kommt von unten die Treppe herauf, um nach der Ursache zu sehen. Er prallt zurück, schreit Mord und ruft Polizei. Diese findet einen Knaben mit dem Kopfe die Treppe herunterhängend todt. Sie schreitet über ihn weg und wird von drei andern neben und über einander liegenden, noch blutenden Leichen aufgehalten, Der Mörder steht hinter ihnen im Hemd und empfängt die Polizei mit den Worten: „Hübsche Geschichte das! Meine Mutter that’s. Sie wollte auch mich morden, und indem ich mich vertheidigte, tödtete ich sie. Das ist nichts gegen das Gesetz. glaub’ ich.“ So spricht er über den frischen Leichen seiner Braut, seiner Mutter, seiner beiden Brüder, noch besprützt von ihrem Blute. Die Untersuchung ergab klar, daß er die „Braut“ mit vieler Ausdauer und List überredet hatte, ihr Leben mit 100 Pfund zu versichern und ihm die Police einzuhändigen,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1860). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1860, Seite 603. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1860)_603.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)