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verschiedene: Die Gartenlaube (1862)

Stelle als Gerichtsdirector entsetzt worden. Am Horizont hoben sich die friesischen „Halligen“ wie ganz schmale Streifen Landes von der Meeresfläche ab. Sie erschienen wie schwimmende Inseln mit Besten und Burgen. Das Meer hatte heute eine helle Farbe, so hell, wie die Nordsee überhaupt aussehen kann, welche nicht so bläulich abgeklärt ist, wie die Ostsee. Gerade uns gegenüber hob sich Oland über den klaren Meeresspiegel empor, die kleinste, ödeste und verlassenste der friesischen Halligen. Am Strande lag der „Nautilus“, der beste Schooner im Hafen von Wyk, segelfertig, und der brave Moritz Petersen, mit dem ich manche Fahrt über die Nordsee gemacht habe, befahl seinem Steuermann die Segel aufzuziehen. Oland sollte das Ziel unsers heutigen Ausflugs sein. Man hatte mir erzählt, daß einer der würdigsten deutschen Prediger nach dieser öden Insel verbannt sei, und diesen verbannten Pastor wollte ich besuchen. Die Gründe seiner Verbannung konnte mir Niemand angeben; aus den Erzählungen des verschiedenartigsten Inhalts schloß ich nur, daß sein Verbrechen gegen die dänische Regierung auch unter die weite Kategorie der „Verbrechen der Nützlichkeit“ falle, deren ein Deutscher sich in Dänemark schon durch stumme Demonstrationen schuldig machen kann.

Der Wind blies aus Südost und kräuselte die Meeresfläche leicht auf. Die Danebrogfahnen, welche am Strande an drei hohen Masten befestigt sind, blähten sich stolz auf, die dänische Musik begann die ihre melodische Schwester an Schönheit noch übertreffende Melodie „vorn tappern Seesoldaten“ zu spielen, der Wind füllte das Segel, der Nautilus flog wie eine weißbeschwingte Möve über die grünen Wogen, und nach einer Viertelstunde lag die ganze dänische Herrlichkeit mit ihrer Bademusik, Danebrogsfahnen und Badekarten weit hinter uns. Schweigend bewunderten wir die Herrlichkeit und Majestät des Meeres. Hie und da erhob sich der schwarze Kopf eines Seehundes aus der schimmernden Fläche, schaute uns neugierig an und verschwand dann wieder ebenso schnell unter dem Wasser. Es war eine interessante und merkwürdige Tiefe, über welche wir hinfuhren, welche vielleicht zu den interessantesten Meerestiefen an den europäischen Küsten gehört. Jetzt deckte diese Tiefen ein schimmernder Schleier spiegelnden Wassers. Aber mein Freund zog eine Seekarte hervor und breitete sie auf der Bank aus, auf der wir saßen, und auf dieser Seekarte sahen wir nun Alles, was der schimmernde Wasserschleier, in dem der Kiel des Schiffes eine lange, in allen Farben des Prisma’s im Reflex der Sonnenstrahlen glitzernde Furche zog, verbarg. Da erkannten wir in den tieferen Wasserstreifen den Lauf der Flüsse, welche ehemals hier durch das Land zum Meere strömten, da blühen an ihren Ufern farbenstrahlende Blumen, da wogten gelbe Kornfelder, da erblickten wir die versunkenen Dörfer mit ihren uralten, viereckigen Kirchthürmen, da sahen wir die versunkenen Wiesen und Fluren, welche noch heute alle ihre alten Namen haben, wie sie vor vielen hundert Jahren hießen. Heute haben sie sich in Sandbänke verwandelt, und die Sandbänke bezeichnet der Schiffer noch nach den Namen der Dörfer, welche einst zwischen diesen Wiesen und diesem Ackerlande standen, und vermeidet sie mit derselben Sorgfalt, wie einst der Wanderer sie suchte. Hie und da zog sich eine leise Brandung in langen Windungen durch die grünschimmernde Oberfläche des Meeres, und die Sonnenfunken spielten mit einander in dem weißen Gekräusel. In der Ferne erscheinen diese leisen Brandungen wie lange, gefärbte Streifen. „Kapplings“ nennt sie der Seefahrer; sie sind die verschiedenen Strömungen der Nordsee, welche sich gegenseitig treffen und sich am Rande in die Höhe heben. Und diese Strömungen entstehen weit unten aus den höher liegenden Sandbänken, welche einst Ackerland waren. Alles das sahen wir auf der Seekarte, und dann blickten wir hinunter über den Rand des Schiffes, auf das spiegelnde, durchsichtige Wasser, und oft glaubten wir auf dem Grunde des Meeres alle die weißen Dörfer und die altersgrauen Kirchthürme und die grünen Wiesen und die gelben, wogenden Kornfelder und die farbenstrahlenden Blumen wiederzuerkennen; die Sagen und die historischen Erinnerungen, welche sich hier an jede Tiefe, an jede Sandbank knüpfen, reihten sich in unserm Gedächtniß aneinander; sie sprachen von Liebe und traulichem Stillleben, von gebrochenen Herzen friesischer Mädchen, deren langerwartete Geliebten in den Sturmfluthen der indischen Meere versanken, von flackernden Heerdesflammen und fröhlichen Sonntagen, und wir glaubten oft tief da unten die Kirchenglocken läuten zu hören, welche zum Gottesdienst riefen, und wir sahen die Häuser und die Steintrümmer, welche noch heute da unten im Sande versteckt liegen und unter denen die Knochen der Unglücklichen bleichen, welche in einer jener immer wiederkehrenden, angstvollen friesischen Nächte voll Sturmgeheul und Nothgeschrei mit den Wogen kämpfender Menschen ihren Tod fanden. Ja, es giebt noch Orte – so erzählte man mir auf der Hallige Langenneß – wo diese Trümmer noch in ihrer wirklichen Gestalt über der Fläche des Meeres, wie körperliche Gespenster der Vergangenheit, erscheinen, wenn die langanhaltenden Ostwinde alle Wasser in die hohe See Hinaustreiben und weite Strecken Meeresboden bloßlegen. Dann ist die alte Verbindung der Halligen unter einander wiederhergestellt, und die „Halligmänner“ und die „Halligfrauen“ von Oland und Langenneß und Amram besuchen sich unter einander, über den „Schlick“ laufend, bis die Fluth wiederkommt und den alten Meeresboden von Neuem mit ihren dahinströmenden Wellen bedeckt. So erzählte auch unser braver Petersen, als wir über die schimmernde Tiefe, den Flug der Möven kreuzend, welche sich die weißen Flügel in den Wellen netzten, vor dem stärker wehenden Ostwinde dahin flogen, während er das Steuer direct auf Oland hielt, welches sich in scharfen Contouren am Horizonte abzeichnete, und wo wir bereits die einzelnen Häuser und die alte Kirche ganz deutlich unterschieden.

„Hier sind es die Wasserströmungen, welche über die blühende, lebendige Gegenwart einst dahin tobten. Alles verderbend und in ihre Strudel niederreißend,“ sagte mein Freund mit traurigem Blick, die Seekarte zusammenfaltend; „bei Neapel waren es die Lavaströme, welche aus dem Krater des Vesuv niederstürzten und Städte und Fluren mit ihren feurigen Armen umschlangen. Sie sahen ja diese versteinerten Lavaströme, jetzt vor einem Jahre; vielleicht gerade heute. Wasser und Feuer! In den Resultaten der Zerstörung ist es ganz dasselbe. Aber wir sind ganz nahe an Oland. Der Nautilus wird gleich auf dem Sande festsitzen. Sehen Sie, ich sehe ganz deutlich den Meeresgrund!“

Ungefähr zweihundert Ellen vor uns erhob sich Oland kaum um einige Fuß über der Meeresfläche. Es war halbe Ebbe. Zur Fluthzeit ragen die Halligen nur wenige Zoll über die Oberfläche des Wassers hervor. Wahrscheinlich ist die Höhe des Halliglandes die mittlere Höhe der Fluthen, welche sich in fünfzig Jahren ereignen. Das Meer hat das Land gerade so hoch aufgeworfen, um es ein anderes Mal wieder verschlingen zu können. Beim Anblick des Landes dachte ich unwillkürlich an das Bild eines Schiffes, welches bis an den Rand in das Wasser gesunken ist. Rund herum war das Ufer von den Wellen abgenagt und abgerissen. Der ganze Umfang der kleinen Insel mochte kaum eine halbe Stunde betragen. Einst war Oland größer; man nannte es im Friesenlande sogar „das reiche Oland“. Jene Zeit ist lange vorüber. Jetzt ist Oland die ödeste und verlassenste unter allen Halligen. Die große Sturmfluth im Jahre 1825 riß einen großen Theil der Insel hinunter auf den Grund des Meeres und verschlang ein ganzes Dorf. Hunderte von Menschen ertranken in den brausenden Fluthen. Eine alte Frau auf der Hallige Langenneß schilderte mir jene Sturmnacht, welche sie als junges Mädchen auf dem Dache ihres väterlichen Hauses zugebracht hatte.. Die Fluthen hatten die Gräber des Friedhofes aufgewühlt, die Särge kamen in die Stube geschwommen, und die Todten fielen aus den morschen Bretern, und ihre grinsenden Köpfe starrten die Lebenden an, welche bereits halbtodt vor Angst und Entsetzen waren. Auf der ganzen Insel erblickten wir nicht einen einzigen Baum. Ein warmer Sonnenschein lag aus den grünen Wiesen, auf denen Schafe weideten und die Bewohner beschäftigt waren, das Heu in Sicherheit zu bringen. Auf einem ungefähr zwanzig Fuß über der Fläche der Insel sich erhebenden Walle standen an einander gedrängt ein Dutzend Häuser, neben ihnen die Kirche, ein weißes, schmuckloses Gebäude mit einem Schieferdache. Nirgends war die Insel durch einen Damm oder Deich geschützt. Die Halligmänner von Oland sind zu arm, um Deiche zu bauen. Mit größter Vorsicht lenkte der Schiffer den Schooner mit dem Steuer, ihn immer in dem tiefern Fahrwasser haltend. So fuhren wir noch einige hundert Ellen langsam am östlichen Ufer der Insel entlang. Ueberall sahen wir die zerstörende Wirkung der Fluthen. Brockenweise waren die höheren Ränder in’s Wasser gestürzt. Oland bot einen überaus traurigen und melancholischen Anblick. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß die nächste Sturmfluth die Insel verschlingen würde. Mein Freund recitirte die Rückert’schen Verse:

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_150.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)