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zukommenden Grenzen, einem jungen Manne, den er sehr lieb hatte, mit der Hand wider die linke Seite der Brust und behauptete, trotz aller gegenteiligen Versicherungen desselben, er allein wisse, daß in dem unruhig pochenden Dinge da drinnen seit kurzem eine allerliebste Königin eingezogen sei. Einem aus Berlin anwesenden Gaste lieferte er aus dem Stegreife eine höchst humoristische und diesem durchaus nicht schmeichelhafte Erklärung der im Altdeutschen feststehenden Bedeutung seines Familiennamens, und Müller, den er nicht gleich wiedererkannt hatte, rief er plötzlich die sehr komisch wirkenden Worte zu: „Seid Ihr nicht Königswinter?“ So heißt nämlich das romantisch gelegene rheinische Städtchen am Fuße des Drachenfels, dessen Namen der Dichter zur Unterscheidung von einer Legion anderer Müller seinem Namen zugefügt halte. Am liebsten aber schweiften seine Gedanken in der reichen und großen Vergangenheit, die er nicht nur erlebte, sondern in die, er selber auch als einer der Tüchtigsten und Thatkräftigsten mit eingriff. Bald schilderte er uns die Tage der tiefsten Erniedrigung unseres Vaterlandes unmittelbar nach der Schlacht von Jena, bald den großartigen Aufschwung und die stammende Begeisterung des deutschen Volkes in den Freiheitskriegen, dann wieder seinen unvergeßlichen Freund, den er selber so treffend den politischen Luther Deutschlands nannte, den Freiherrn von Stein, und endlich seine ferne Heimath, die schöne Küste der blauen Ostsee und das von nordischer Sage verklärte Rügen.

Von hier kam er, ohne einen zu großen Sprung zu wagen, aus Schleswig-Holstein und mit großer Strenge auf „den putzigen kleinen Dänen“ zu reden, eine Gesammtbezeichnung eines ganzen Volkes, die, als er sie früher einmal öffentlich gebrauchte, die reizbaren Kopenhagener zu einer Beschwerde durch den dänischen Bundestagsgesandten in Frankfurt aufstachelte. Einmal in Seeland, war auch die Küste Skandinaviens nicht mehr fern und mit ihr seine Schweden und Norweger, für die er von jeher eine zärtliche Vorliebe hatte. Es war überhaupt rührend zu bemerken, wie die Völker Europas, je nachdem sie entweder selber Germanen oder doch germanischer Abkunft waren, seinem Herzen näher oder ferner standen. So sprach er z. B. von den Dänen keineswegs als von uns angeborenen Feinden, was er von den Franzosen that, sondern nur wie von einem eitlen und naseweisen kleinen Burschen, den seine allzu langmüthigen Vettern endlich einmal auf die Finger klopfen müßten, damit er sich gegen so ehrwürdige und mächtige Verwandte mit dem geziemenden Respecte betragen lerne. Die Schweden aber zog er selbst den Engländern vor, auf die er doch sonst große Stücke hielt; sie kamen ihm gleich nach den Deutschen. Diesmal steigerte er sich in ihrer Bewunderung sogar zu der Behauptung, daß, ich weiß nicht mehr in welchem Kriege, ein einziges finnländisches Dragonerregiment sechs polnische Uhlanenregimenter in die Flucht geschlagen und gänzlich aufgerieben habe! –

Wer von uns Allen, die wir den feurigen Greis, mit dem schneeweißen Haare, aber der noch kräftigen, untersetzten Gestalt, in voller Geistesfrische vor uns sahen und seine mächtig tönende Stimme vernahmen, hatte gedacht, daß ein paar Wochen später der Winter seine weiße Flockendecke über seinen Grabhügel streuen würde? Mußten wir doch im Gegentheil glauben, daß der theuere Alte, dem so eben wieder alle deutschen Stämme wie einem gemeinsamen Vater ihre Huldigungen dargebracht, uns und seinem Volke noch lange erhalten bleiben werde, da er an seinem neunzigsten Geburtstage körperlich und geistig so aufrecht vor uns dastand. Unser Wirth sprach daher nur unser Aller Gedanken aus, als er zum Schlüsse des heiteren Mahles sein Champagnerglas erhebend ausrief: „Stoßen wir darauf an, daß wir in zehn Jahren den hundertsten Geburtstag unseres Vaters Arndt feiern!“ – „Nein,“ erwiderte Arndt, „das hundertste Jahr erreiche ich nicht. Mir träumte einst, als ich noch jung war, ich sähe meinen Leichenstein und darauf zur Linken die Zahl Neun, während die zur Rechten befindliche Ziffer meinem Auge unleserlich blieb. Seit dieser Zeit – ja, lächelt nur über des Alten Aberglauben – stand es mir fest, daß ich wohl einmal das 60 Jahr erreichen, aber auch nicht weit darüber hinaus kommen würde, und Ihr werdet bald sehen, daß ich mich nicht täuschte. Was thut’s auch? habe ich doch lange genug gelebt, um noch eine große Hoffnung mitzunehmen und die heißt: Deutschland! Wir sind zwar noch weit entfernt von der Erfüllung des großen Gedankens, der mein ganzes Dasein durchdrang und bestimmte; noch weit entfernt von dem Tage, da ein einziges großes Volk vom adriatischen Meere und den Alpen bis zu den Belten, von der Schelde und der Maas bis zum Niemen wohnen wird. Aber wir haben doch schon große Schritte auf dieses Ziel hin gethan, und daß wir’s erreichen, dafür wird nächst Gott das deutsche Volk selber sorgen. Nur einen Wunsch habe ich noch für mich persönlich und möchte ich erfüllt sehen, bevor ich scheide. Ich erhielt gestern von unsern vlämischen Brüdern in Belgien eine ebenso herzliche wie feierliche Einladung zu dem nächsten großen Vlamen-Congresse. Seht, da möchte ich noch hin, um jenem herrlichen, uns so nahe verwandten Stamme ein Abschiedswort aus vollem Herzen zuzurufen, ehe diese Lippen für immer verstummen. Glaubt mir, von den Vlamändern, die seit zwei Jahrzehnten angefangen haben, so tapfer für die große Idee ihrer nationalen Zusammengehörigkeit mit uns zu streiten, wird uns vielleicht noch einmal ein Anstoß kommen, der uns aus unserer immer noch erschreckenden Gleichgültigkeit gegen unsere nationale Existenz und aus unserer unglückseligen Stammes-Eifersüchtelei aufrütteln und in unseren hochherzigen Brüdern jenseits der Maas ein leuchtendes Vorbild erkennen lassen wird. Denn die Vlamänder haben, obgleich nicht mehr zum Reiche gehörig und dessen Schutze längst entrückt, niemals aufgehört, seitdem sie sich wieder als Germanen empfanden, das große Ganze im Augen zu behalten, während wir Anderen das nur locker noch zusammenhängende und schon so sehr zerrissene Vaterland durch unsere widerwärtigen konfessionellen Vorurtheile, unseren lächerlichen Provincialismus und die damit zusammenhängenden traurigen Stammesgehässigkeiten womöglich noch tiefer in seinem Innern spalteten!“ –

So sprach Vater Arndt wenige Tage zuvor, ehe er uns für immer entrückt ward. Uns, den Hinterbliebenen, aber sollen diese Worte ein theueres Vermächtniß und ein Grund mehr sein, unsern Brüdern in Belgien unser ganzes Herz zuzuwenden, ja ihnen mit dem Schwerte in der Hand beizuspringen, wenn der Gallier es wagen sollte, die Bedingungen ihres nationalen Daseins zu bedrohen.

Aber stehen uns denn die Vlamänder wirklich so nahe? wird vielleicht mancher unserer Leser fragen. Es sei mir, um hierauf zu antworten, vergönnt, wenigstens nur Einiges von den Untersuchungen mitzutheilen, zu denen mich gerade Vater Arndt’s Interesse an dem vlämischen Bruderstamme zuerst anregte.

Unser norddeutsches Tiefland, das eigentlich schon in Frankreich auf der Wasserscheide zwischen Schelde und Somme beginnt und sich bis in die russischen Ostseeprovinzen fortsetzt, wird von einer Reihe nahe verwandter Stämme bewohnt. Man kann sie sämmtlich unter dem allgemeinen Begriffe „niederdeutsch“ zusammenfassen, wie denn, in unmittelbarem Anschluß an diese Bezeichnung, Holländer und Belgier noch bis zum Jahre 1830 gemeinsam „Niederländer“ genannt wurden. Auch eine besondere Mundart, das „Plattdeutsche“, ist so ziemlich allen Stämmen gemein. Nicht weniger ist der äußere Habitus dieses einige zwanzig Millionen umfassenden Menschenschlages derselbe. Dies zeigt sich nicht etwa allein in dem verwandten Gepräge, das eine ähnliche Beschäftigung und Landesbeschaffenheit einer Bevölkerung aufdrückt, also hier z. B. überseeischer Handel, Schifffahrt, Zusammenleben in großen volkreichen Städten und Seeplätzen, Anbau fetter von Dämmen geschützter Marschländer u. s. w., auch nicht allein in der Wirkung, die ein beständiger Kampf mit den Elementen, mit Wellen und Sturm, und ein Horizont, der ferne Welttheile umfaßt, auf Seele und Körper üben, sondern weit mehr noch in den charakteristischen Kennzeichen ein und derselben Race, so wie in der wunderbar übereinstimmenden Gemüthsart und Charakteranlage, der wir beim Vlamänder wie beim Friesen und Ostpreußen, beim Niederländer wie beim Holsteiner oder Schleswiger begegnen. Bei allen finden wir dasselbe zähe und entschlossene Festhalten an ihren Rechten und Traditionen, dieselbe Anhänglichkeit an Vaterland und Stammeseigenthümlichkeit, an der es leider manchen Süddeutschen, z. B. den Elsässern, so gänzlich mangelt, denselben behaglichen und phlegmatischen Gleichmuth, gewürzt durch einen derben Mutterwitz, und vor allem dieselbe Entwicklung eines schönen Unabhängigkeits- und Freiheitssinnes, für den, eben so wie in älterer Zeit die Freiheitskriege der Niederländer, in unseren Tagen die Kämpfe der Schleswig-Holsteiner glänzendes Zeugniß ablegen.

Die Holländer und Belgier dürfen sich der freiesten Verfassungen in ganz Europa rühmen. Aehnlich beziehungsvoll sind die Bewohner Ostpreußens und der nördlichen Hälfte der Rheinprovinz, also gerade desjenigen Theils, der noch mit in die große niederdeutsche Ebene hineinreicht, die politisch fortgeschrittensten ganz

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verschiedene: Die Gartenlaube (1862). Ernst Keil’s Nachfolger, Leipzig 1862, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1862)_794.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)