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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863)

Die unsichtbare Geistermusik.
Ein Graudenzer Erlebniß
Von Ludwig Walesrode.
(Schluß.)

Spät am Nachmittage war, wie angeordnet, die für mich bestimmte Casematte in vollständige Bereitschaft gesetzt und wurde auch sofort von mir bezogen. Ihre Lage war keine besonders anmuthige. Während die anderen Oberthor-Casematten in gebrochener Linie Halbfront gegen die durch die Festung führende Alleestraße und vor Allem gegen die Morgensonne machten, lag die meinige im rechten Winkel an die hohe finstere Mauer der Festungskehle gelehnt, gewissermaßen im ewigen Schattenreiche. Selbst wenn die Sonne bei ihrem scheinbaren Jahresgange um die Erde sich in diese Ecke der Festung Graudenz verirrte, vermochte sie doch keinen ihrer goldenen Strahlen durch die niedrig am Boden gelegenen tief in die Mauer gebrochenen Fenster in das Innere dieser Casematte zu senden. Darum war diese so kalt und feucht, daß ich selbst während des heißen Sommers von 1846 genöthigt war, dieselbe heizen zu lassen. Auch das offene Latrinengewölbe in meiner nächsten Nachbarschaft, vor welchem in den Morgenstunden die Baugefangenen die widerlichsten aller öffentlichen Arbeiten verrichten mußten, war gerade nicht im Stande, das ästhetische Behagen an diesem Platze zu steigern. Das Einzige, was einigermaßen Ersatz für diese unerquickliche Lage bot, waren die schräg zulaufenden Musketen-Schießscharten in der Befestigungsmauer, durch welche ich in schmalen perspektivischen Streifen eine Aussicht über den Weichselstrom, seine Kempen und das gegenüberliegende Ufer bis an den weitblauenden Horizont hatte. Ein solches noch so knauserig zugemessenes Stückchen Aussicht ins Freie ist von unschätzbarem Werthe für den auf Jahr und Tag auf den engen, von hohen Wällen umschlossenen Festungsraum beschränkten Gefangenen. – Der Zutritt zu meiner eigentlichen Casemattenstube ging über einen schmalen Hausflur, von welchem gerade vor meiner Stube eine doppelte mit Eisenüberwurf und Vorhängeschlössern versicherte Fallthüre in den „Mordkeller“ hinabführte, wie das tiefe unter der Erde ausgemauerte Gewölbe genannt wurde, welches den Zugang zu den labyrinthischen Gängen des nach den Außenwerken der Festung führenden Minensystems bildete. Also zu der schauerlichen Geistergeschichte auch noch der Mordkeller. Es war als ob ich in die Einleitung eines haarsträubenden Schauerromans, verlegt von Gottfried Basse in Quedlinburg oder von Fürst in Nordhausen, einträte. – Die zu ebener Erde liegende, durch eine doppelte Bohlendecke von dem oberen Gewölbe getrennte Casematte hatte die Dimensionen eines Pferdestalles für mindestens 10 Gespanne. Selbst an den hellsten Tagen herrschte in dem Hintergrunde derselben in der Nähe des Ofens ununterbrochene Dämmerung. Sonst war sie, den Umständen nach, nicht unfreundlich. Die Fenster waren ohne die sonst übliche Eisenvergitterung und die Wände al fresco mit einer gelben Tünche bepinselt, die mit dem Gelb der Baugefangenen-Uniform auf’s Innigste harmonirte. Außerdem hatte mein in seiner Sorgfalt und Aufmerksamkeit für mich unermüdlicher Freund W. aus der Stadt durch Hinaufsendung einiger Möbeln, wie eines Lehnstuhles, Schreibtisches, Spiegels und Bettes, die Casematte so behaglich als möglich ausstatten lassen.

So war ich denn richtig auf ein volles Jahr ding- und bombenfest untergebracht. In sentimentaler Anwandlung hätte ich mir wohl auch provisorisch eine bis zu Thränen rührende Leichenrede halten können. Ruhte ich doch nunmehr, wie’s wenigen Sterblichen bei Lebzeiten beschieden ist, unter feuchtem Rasen, der mit dem nächsten Frühling gar grün und blumig über mir aufsprießen sollte; und auch eine Kuh sollte da oben über meinem irdischen Leichnam grasen, wie eine solche über dem verfallenen Staube des Königsberger Humoristen Hippel auf dem Armenkirchhof zu Königsberg graste, bis vor kurzem dort dem immer mehr um sich greifenden Festungsbau auch das grüne Fleckchen eines rührenden Friedhofhumors zum Opfer fiel.

Vor Allem aber wollte mir die Geschichte meines Vorgängers, des polnischen Grafen, gar nicht aus dem Sinn. Denn es ist ein Anderes, so etwas flüchtig zu hören oder zu lesen und unter den Zerstreuungen des geräuschvollen Tages zu vergessen, ein Anderes in enger Räumlichkeit auf den Boden einer solchen Schauergeschichte gebannt zu sein, gewissermaßen in einen lebendigen Zusammenhang mit einer unheimlichen Tradition zu treten. Wer könnte ruhig in einem Bette schlafen, von dem er wüßte, daß ein Mensch seinen letzten schweren Todesseufzer darin verröchelt? Wer möchte auf einer ehemaligen Richtstätte die Comforts und die geselligen Freuden der Häuslichkeit genießen?

Ich hatte mir Licht angezündet, das meine langgestreckte Casematte nur zweifelhaft erhellte, und an der Lectüre der „Instruction für die Königlichen Festungscommandanten wegen Behandlung der Festungsstubengefangenen“ vom Jahre 1826, unterzeichnet: Kriegsminister v. Hacke, suchte ich mich von all den Eindrücken zu ernüchtern, mit welchen ohnedies die erste im Gefängniß anbrechende Nacht den Neuling umfängt. Die damalige bureaukratische Weisheit des preußischen Staates hatte zum Ueberflusse auch das Leben des Gefangenen in ein dichtes Netz von Paragraphen eingesponnen. Ich hatte für eine volle Stunde genug zu lesen. Aber unwillkürlich schweifte mein Blick oft von der Instruction an den Wänden umher, als zöge ihn ein gewisses Etwas, die besagten Blutspuren an denselben zu entdecken, und in der That schien’s fast, als träten blutige Flecken unter der frischen gelben Tünche hervor. – Endlich war’s, nach Paragraphus so und so viel der Instruction, vorschriftsmäßige Zeit, das Licht auszulöschen und zu Bett zu gehen.

In der Festung war’s still geworden bis zur Lautlosigkeit. Nur von Viertelstunde zu Viertelstunde hörte man das sogenannte „lange Werda?“, das sich die Wachen als Controle ihrer Wachsamkeit ringsum zurufen müssen, eine Art von gedehntem Hahnenschrei, das R im „Werrrrrrrrda?“ so rollend, daß unsere Schauspielerinnen und Sängerinnen sich desselben für das so zungenschlagfertig schnarrende Bühnen-R als treffliche Uebung bedienen könnten.

Auch von den Außenwerken trug der Wind den Wachtruf in die Festung hinein, so daß man ihn wie in einem zwanzigfachen Echo verhallen hörte. Dieses „Werda?“ in seiner eintönigen Regelmäßigkeit hatte etwas Einschläferndes wie der Pendelschlag einer Uhr oder wie das Rauschen des Mühlrades. Nochmals zog Alles, was ich am Tage erlebt und gehört, als Einleitung zu einem phantastisch bunten Traume durch die halbwachen Sinne. Da mit einem Mal streifte eine leise abgedämpfte Musik wie aus einer Wolke schwebend dicht über mein Lager hin, bald im leisen Pianissimo verhauchend hinsterbend, bald wieder in wunderbaren Modulationen anschwellend den ganzen Casemattenraum durchringend. – Anfangs glaubte ich wirklich zu träumen und willenlos dem Spiele meiner entfesselten Einbildungskraft hingegeben zu sein; aber der gerade von der Oberthorwache herschallende Anruf der Ronde, das Commandowort, das Klirren der Musketen der unter’s Gewehr tretenden Wache etc. weckte mich zum vollen Bewußtsein der Sinne.

Jetzt war’s wieder still geworden, man hörte nichts als das Rascheln des Windes in dem Geäste der Linden gegenüber, da – richtig – da klang’s wieder wunderbar geisterhaft bald in diesem bald in jenem Winkel der Casematte, schwebte es über meinem Haupte weg, verlor sich’s leise, kehrte es anschwellend hin und wieder. Es hörte sich meist an wie ein Streichquartett mit obligat concertirender Geige. Die Töne, wie sie so aus weiter jenseitiger Ferne klangen, und doch wiederum in nächster und unmittelbarer Nähe, hatten etwas geisterhaft Neckisches; man wurde an den muthwilligen Ariel mit seiner unsichtbar durch die Lüfte ziehenden Musik in Shakespeares „Sturm“ erinnert. – Hört man erst Töne, so bleiben auch die Melodien nicht aus. Alle meine musikalischen Reminiscenzen wurden wach gerufen. Bald glaubte ich ein Violinconcert von Mayseder, bald einen Satz aus einem Quartette von Beethoven, Onslow, Feska u. A. zu hören. Bald meinte ich wieder die chevaleresk galante Polonaise des Grafen Oginsky zu erkennen. Gesteh’ ich’s nur, ich fühlte die Schauer unheimlicher Geisternähe mich kalt durchrieseln; denn mein Herz ist so gläubig hingebend, wie nur eins in der Welt, und das Wunder ist sein liebstes Kind. Allein mein Kopf ist wiederum ein gar kühler Skeptiker, der dem gläubigen Herzen und dessen verzogenem Wunderkinde auch nicht das Geringste durchgehen läßt. Ich war fest entschlossen, meine bestochene Einbildungskraft zur Ordnung zu rufen und nicht eher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1863).Leipzig: Ernst Keil, 1863, Seite 526. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1863)_526.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)